Zur Person
Ich bin aus Zufall Deutscher, aus Überzeugung Europäer – Weniger mit dem Bekenntnis, „überzeugter Europäer“ zu sein, als vielmehr mit der Feststellung, (nur) „aus Zufall Deutscher zu sein“, weiß ich nicht selten mein Gegenüber zu irritieren. Und doch ist es eine Binsenweisheit: Ob wir Deutsche, Franzosen, Italiener, … sind, es ist in den aller meisten Fällen einem Zufall geschuldet. Allein unsere Geburt und Existenz als Mensch verdanken wir einer naturgesetzlichen Notwendigkeit, unsere Nationalität bestimmen die politischen Rahmenbedingungen an dem Ort, an dem wir erstmals das Licht der Welt erblicken.
So blieb mir, dem am 27. Januar 1957 in Bonn geborenen Sohn eines aus Westfalen stammenden Vaters und einer aus dem Rheinland stammenden Mutter gar nichts anders übrig, als „Deutscher“ zu werden. Strenggenommen bin ich ein Rheinländer mit westfälischem Migrationshintergrund. Ich bin ein erklärter Anhänger des Regionalismus in Europa!
Wäre ich in der gleichen Konstellation 100 Jahre früher geboren worden, ich hätte nicht „Deutscher“ werden können. Einen deutschen Staat und eine eben solche Nation, gab es (noch) nicht. Was wiederum ein Beleg dafür ist, dass nichts in der europäischen Geschichte so häufig und schnell umgeschrieben wurde und wird, wie das, was eine Nation ist. Letzten Endes ist die uns per Zufall mit unserer Geburt zufallende Nationalität gerade in Europa eine Frage von Grenzverläufen. Hierfür liefert die europäische Geschichte vielzählige Beispiele. Ich lebe seit über 20 Jahren in Ostbelgien, der Region des Königreiches, in der die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens beheimatet ist. Für mich ist diese Region, obwohl ich Deutscher bin, zur Heimat geworden und deshalb stimme ich dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse zu, wenn er sagt: „Heimat ist Region, Nation ist Fiktion!“
Gerade dafür legt die Geschichte meiner neuen Heimat Zeugnis ab. Seit dem Wiener Kongress von 1815 gehörte diese Region zu Preußen, mithin seit 1871 zum Deutschen Kaiserreich. Seit dem Versailler Vertrag von 1919 ist sie Teil des Königreichs Belgien. Welches Wechselspiel in puncto nationaler Zugehörigkeit die Menschen in dieser Region im Verlauf der Zeit erlebt und durchlebt haben, schildern Karl-Heinz Lambertz und ich in unserem Buch „Von Eupen nach Europa- Ein Plädoyer für eine föderale und regionale EU“.
Es sind also nicht die Gene und erst recht nicht eine natürliche oder gar göttliche Ordnung, denen wir es verdanken, Deutsche oder Franzosen zu sein. Nicht einmal die Konstruktion der Nation ist eine naturgesetzliche. Und deshalb ist auch keine von ihnen im besonderen Maße „erwählt“. Nicht einmal für die amerikanische gilt das.
Warum, so mögen Sie fragen, betone ich diese Binsenweisheit.
Nun, in Zeiten, in denen der Nationalismus in Europa wieder fröhliche Urständ feiert, erscheint mir der Hinweis auf die Zufälligkeit unserer nationalen Zugehörigkeit und die damit durchaus beabsichtigte Relativierung deren Bedeutung von Nöten. Sich der Zufälligkeit seiner nationalen Zugehörigkeit bewusst zu sein, verhilft zu einer kritischen Distanz gegenüber nationalistischen Parolen. Wozu das „Virus“ Nationalismus in der Lage ist, haben die Europäer in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts leidvoll erfahren.
Es gehört schon ein gerüttelt Maß an fehlender intellektueller Trennschärfe und historischem Analphabetismus dazu, wenn Angehörige dieser oder jener Nation davon überzeugt sind, dass gerade ihre im Vergleich zu den anderen (europäischen) eine Sonderstellung einnehme. Das Geschwurbel, mit dem diese reklamiert wird, lässt mich ob des daraus erkennbaren Bildungsniveaus immer wieder erschauern. Wie schrieb doch der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem 1930 erschienen Buch „Der Aufstand der Massen“: ……machten wir heute Bilanz unseres geistigen Besitz- Theorien und Normen, Wünsche und Vermutungen -, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen… Wenn wir uns versuchsweise vorstellen, wir sollten lediglich mit dem leben, was wir als „Nationale“ sind, werden wir bestürzt sein, wie unmöglich eine solche Existenz schon ist; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“
Mit anderen Worten: Unsere nationale Eingestaltigkeit wird durch die europäische Vielgestaltigkeit geprägt. Oder anders gesagt: Im kulturellen Sinne gibt es nur Europäer!
„…Es gilt Abschied zu nehmen von dem liebgewordenen Denken in bloßen Nationalinteressen und Einzelstaaten. Angestammte Eifersüchteleien, begründete Verstimmungen, der ganze nationale Egoismus hat größeren Gesichtspunkten Platz zu machen“- so aktuell dieser Satz auch klingen mag, er stammt von dem antiken griechischen Philosophen Platon (428-348 v. Chr.) Er ist mir genauso zu einer Art Leitmotiv geworden wie das von Jean Monnet stammende Credo, es gelte, den Europäern ihr Europäertum bewusst zu machen, damit Europa eine Union der Bürger wird.
Deshalb treibt es mich um, wenn ich bei meinen Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlichster Altersstufen – gleichgültig, ob in Deutschland, Belgien oder Luxemburg- immer wieder höre, wie wenig sie über Europa wissen. Sie beklagen, viel über den Staat, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, seine Geschichte, die Kultur etc., zu lernen, doch Europa ist für sie terra incognita. So selbstverständlich Ihnen Europa als Lebenswelt ist, so wenig sind sie sich ihres Europäertums bewusst.
Aus dieser Erfahrung begründet sich mein Projekt „Europastunde“, zu dem Sie Einzelheiten unter Projekte finden.
Als Herausgeber der „Europäischen Zeitung“ in Deutschland zwischen 2001 und 2004 habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, wie man Europa den Menschen besser, weil aus einem europäischen Blickwinkel, vermitteln kann. Das Ergebnis meiner Überlegungen dokumentiert das Projekt THE JOURNAL OF EUROPE.
Mit Wohnsitz in Ostbelgien, einer Rechtsanwaltskanzlei in Düsseldorf und einer Mediengesellschaft in Luxemburg gehöre ich möglicherweise zu der von Cees Nootebohm in seinem Essay „Wie wird man Europäer“ als „hybride Wesen“ bezeichneten Spezies, die an mehreren Orten gleichzeitig und zugleich nirgendwo heimisch sind, die sowohl die Einheit als auch die Vielfalt Europas in ihr eigenes Dasein inkorporiert haben.
Genauso wenig wie man als „Deutscher“ geboren wird, wird man es als „überzeugter Europäer“. Man entwickelt sich dazu. Oder anders: Man kann nicht aus Zufall ein überzeugter Europäer sein.
Während jedoch für die Sozialisierung als „Deutscher“ von Geburt an andere, maßgeblich die Eltern, die Schulen, schlichtweg die Gesellschaft, sorgen, obliegt dies dem „überzeugten Europäer“ selbst. Überzeugungen entstehen nicht aus sich heraus, sie sind kein Zufallsprodukt sondern das Ergebnis von Erfahrungen und Erkenntnissen.
Vielleicht hat meine Begeisterung für Europa, für die europäische Einigung, etwas mit meiner Generation zu tun. Den Krieg haben wir nicht mehr erlebt, auch nicht die unmittelbare Nachkriegszeit. Wir sind quasi in das beginnende „Wirtschaftswunder“ hineingeboren worden. Die junge BRD hatte sich eingerichtet, für die 68-er Bewegung war ich zu jung. Was aber im Werden war, wo etwas Neues entstand, das war Europa. Im Jahr meiner Geburt, am 25.März 1957, wurde in Rom mit der Gründung der EWG ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur europäischen Einheit gesetzt.
Mit dieser EWG und so gleichsam mit der Idee einer neuen europäischen Welt wurde ich dank der beruflichen Tätigkeit meines Vaters schon in jungen Jahren vertraut, obwohl dies alles nach meiner Erinnerung kein Thema im Schulunterricht war. Und doch fand „Europa“ auch bei uns in der Schule statt, nur wurde es nicht als solches vermittelt. Wir haben Caesars „de bellum Gallicum“ gelesen, sind mit Homer in die antike griechische Mythologie eingetaucht, haben uns mit den antiken Philosophen auseinandersetzen müssen, haben die Abenteuer der drei Musketiere von Dumas gelesen, wie überhaupt unsere literarische Welt nicht an der Grenze endete. Und dennoch hat uns niemand erklärt, dass sich in all dem das uns in Europa über alle nationalen Grenzen hinaus verbindende gemeinsame kulturelle Erbe widerspiegelt. Wir haben deutsche Geschichte gelernt, sie jedoch nicht als Teil der gemeinsamen europäischen Geschichte verstanden. Dass wir Europäer eine Kulturgemeinschaft bilden und dies Europa von anderen Kontinenten unterscheidet, haben wir so nicht gehört. Zuweilen habe ich bei meinen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit deren Lehrerinnen und Lehrern den Eindruck, dass sich hieran bis heute nicht viel geändert hat. Deshalb plädiere ich, wo immer es möglich ist, für eine „europäische Bildungsoffensive“, die statt des „homo oeconomicus“ den „homo europaeensis“ zum Bildungsideal erhebt. Mit diesem Thema habe ich mich im Schlusskapitel meines Buches „9. Mai 1950 – Die Geburtsstunde Europas“ ausführlicher auseinandergesetzt.
Während der Arbeit zu diesem 2016 erschienenen Buch wurde meine Tochter 18 Jahre alt. Dies gab mir Gelegenheit, mich meines eigenen 18. Geburtstages und der seinerzeit herrschenden Lebensbedingungen zu erinnern. Meine Tochter (Jahrgang 1997) gehört einer Generation an, die Kriege zwischen europäischen Völkern nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen kennt, die nicht einmal die Teilung Europas kennengelernt hat, für die Europa eine Selbstverständlichkeit ist. Sie ist in Köln geboren, also deutsche Staatsbürgerin, lebt aber seit ihrem 2. Lebensjahr in Belgien, ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ihre „Muttersprache“ ist zwar deutsch, doch spricht sie lieber französisch. Für sie ist Europa ihre Lebenswelt.
Als ich meinen 18. Geburtstag (in Köln) gefeiert habe, galt die Teilung Europas als geradezu auf Ewigkeit zementiert. Für meine Freunde und mich war es ein besonderes Abenteuer, West- Europa per Interrailticket zu durchreisen und zu erleben. Auch wenn wir an jeder Grenze kontrolliert wurden und alles für uns Neuland war, so eröffnete sich uns doch eine Welt, die eben nicht mehr am nächsten Grenzzaun endete. Wir haben uns gemeinsam mit unseren Altersgenossen, die wir in den anderen Ländern kennen lernten, ein großes Stück weit als Europäer empfunden. Wir haben gesehen und erlebt, wie schön dieses Europa ist und vor allem, wie viel uns verbindet.
Als mein Vater (Jahrgang 1926) seinen 18. Geburtstag beging – von „feiern“ war angesichts der Umstände wohl kaum die Rede- befand sich Europa im Krieg. Sein Europa war ein Ort des Krieges, der Vernichtung und des Hasses.
Zwischen dem 18. Geburtstag meiner Tochter (2015) und dem meines Vaters (1944) liegen gerade einmal 71 Jahre, mithin eine Zeitspanne, die bei Lichte betrachtet nicht mehr ist als ein Stoßseufzer der Ewigkeit. Warum dieser Wandel in Europa möglich geworden ist, habe ich zuletzt noch einmal in meinem Buch „Mit Kohle & Stahl zu Frieden & Freiheit“ zu erklären versucht. Mir erscheint es wichtig, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, dass Europa bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein Ort des Krieges war. Um sich des gemeinsam in den vergangenen 70 Jahren erreichten zu vergewissern und dies zugleich zum Fundament eines Europas der Bürger zu machen, brauchen die Europäer eine gemeinsame Erinnerungskultur. Frieden, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind keine Selbstläufer.
Wenn ich sage, ich sei ein überzeugter Europäer, so impliziert dies nicht zwangsläufig, dass ich die Europäische Union in ihrer heutigen Verfasstheit, geschweige denn die in ihrem Namen gemachte Politik als das non plus ultra politischer Weitsicht und Vernunft verstehe.
Europa ist, was in der öffentlichen Debatte verloren geht, mehr als die EU. Und das nicht nur im geographischen Sinne.
„Europa“ ist für mich das Synonym für ein Lebens- und Gesellschaftsmodell, das ausgehend von der Gleichheit aller Menschen die Freiheit (und Verantwortung) des Einzelnen zum Leitbild hat und dessen Fundamente Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sind. Ich finde es bemerkenswert, dass Hippokrates schon vor 2.500 Jahren erkannt hat, die Europäer hängen an der Freiheit hängen und sind bereit, dafür zu kämpfen, wenn nicht gar zu sterben und er in diesem Zusammenhang die Demokratie als deren bevorzugtes politisches System identifiziert hat.
Neben Freiheit und Gleichheit prägt für mich vor allem das Gebot des solidarischen Miteinanders den european way of life. Nicht ohne Grund hat Helmut Schmidt den Sozial- und Wohlfahrtsstaat als die letzte große kulturelle Errungenschaft der Europäer und einen unverzichtbaren Bestandteil der gemeinsamen politischen Kultur bezeichnet. Dieser vereint gleichzeitig Solidarität, Verantwortung und Wettbewerb, was es in dieser Form nur in Europa gibt. Die Solidarität (Brüderlichkeit) gehört zum Markenkern des europäischen Gesellschaftsmodells und grenzt es damit – so Jeremy Rifkin – entscheidend vom amerikanischen ab, bzw. macht es diesem gegenüber moralisch überlegen.
Umso mehr muss es erschrecken, wie erfolgreich sich die Europäer aktuell wieder einmal in ihrer Geschichte anschicken, ihre eigenen Werte zu verraten und damit ihr eigenes gesellschaftliches Fundament zu erschüttern. Und das alles nur, um den vermeintlichen Notwendigkeiten der heutigen neoliberalen Form der Globalisierung zu gehorchen.
Man mag zu der EU stehen wie man will. Auch wenn sie als politisches Ordnungsmodell des Zusammenlebens der europäischen Nationen erhebliche Dysfunktionen aufweist, für mich ist sie dennoch der erste – in weiten Bereichen sogar erfolgreiche – Versuch der Europäer, ihr Lebens- und Gesellschaftsmodell mit einer definitiven politischen Ordnung zu verbinden. Begründet habe ich meine These in dem Essay „Europa ist…mehr als ein Binnenmarkt“.
Das, was die EU ausmacht, ist die Rechtsgemeinschaft. Es ist nicht der Binnenmarkt, der die EU sexy macht, nicht der Euro, es ist die Tatsache der Rechtsgemeinschaft. Das macht sie als politisches Ordnungsmodell in der Welt einmalig. Die Einheit Europas, das friedliche und freiheitliche Zusammenleben der Europäer, ungeachtet ihrer nationalen Herkunft, mit der Kraft des Rechts zu gestalten, ist für mich angesichts der Geschichte Europas etwas geradezu Revolutionäres.
Die Rechtsgemeinschaft macht die EU zu einem politischen und gesellschaftlichen Ordnungsmodell im Sinne der Idee Europa und schafft die Rahmenbedingungen für die Union der Bürger. Die Gleichheit und Gleichberechtigung ist die einzige Art von Gleichheit, die die Freiheit des Menschen garantiert und fördert. Deshalb bin ich der Meinung, dass mit der Unionsbürgerschaft Europa auf dem Weg zu einem „gemeinsamen Haus der Freiheit“ (Konrad Adenauer) schon ein gutes Stück weit vorangekommen ist.
Es kommt verständlicher Weise nicht von ungefähr, dass ich mich seit Beginn meiner anwaltlichen Tätigkeit im Jahre 1987 schwerpunktmäßig mit europarechtlichen Fragen befasse. Immer mehr rückt dabei die Durchsetzung der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und Freiheiten von uns EU- Bürgerinnen und EU-Bürgern in den Vordergrund. Für mich ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass Europa zunehmend bei den Menschen ankommt.
Was diese „Unionsbürgerschaft“ bedeutet und wie sie trotz ihrer Unvollkommenheit heute schon unsere Lebenswelt prägt, damit habe ich mich in meinen Büchern und insbesondere in meinem Essay „Vom Staatsbürger zum Unionsbürger“ auseinandergesetzt. Fakt ist, und das erlebe ich selbst im Alltag, dass in diesem Punkt noch erheblicher europäischer Gestaltungsbedarf besteht, um Europa wirklich zu einer Union der Bürger werden zu lassen. Dessen ungeachtet sind es jedoch häufig nicht die fehlenden gesetzlichen Grundlagen, als vielmehr die mangelnde Kenntnis derselben, nicht selten einfach nur Ignoranz und Widerwillen bei den Verantwortlichen in Behörden, Standesorganisationen u.ä., die die Inanspruchnahme der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freiheiten dem einzelnen erschweren. Damit persönlich oder im Rahmen eines anwaltlichen Mandates konfrontiert wünschte ich mir häufig: Herr, lass europäischen Geist regnen!
Im Rahmen meiner publizistischen Aktivitäten bemühe ich mich, dem europäischen Geist auch ohne Inanspruchnahme göttlichen Zutuns ein wenig auf die Sprünge zu helfen. So verstehe ich mich hier in Anlehnung an meine anwaltliche Tätigkeit als „Anwalt der Idee Europa“. Diesen „Titel“, den ich zugleich als „job-discription“ begreife, verdanke ich einer Journalistin anlässlich einer Vorstellung meines Buches „9.Mai 1950 – Die Geburtsstunde Europas“, in dem ich mich ausführlich mit dem Wesenskern dieser Idee auseinandergesetzt habe.
Für mich bedeutet Europa als Idee die Schaffung einer europäischen Föderation, deren Fundament das europäische Lebens- und Gesellschaftsmodell ist, deren Rahmen eine gemeinsame Rechts- und Sozialordnung ist und in der die Regionen zum maßgeblichen politischen Akteur werden. Nur so kann nach meiner Überzeugung Europa zu einer wirklichen Union gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger werden. Wie diese föderale und regionale EU aussehen kann, haben Karl-Heinz Lambertz und ich im Schlusskapitel unseres Buches „Von Eupen nach Europa“ ausführlich diskutiert.
In Ausübung dieses, wenn man so will, selbstgewählten Mandates als „Anwalt der Idee Europa“ habe ich in den vergangenen Jahren (vor Corona) an vielen europapolitischen Diskussionen mit gänzlich unterschiedlichen Auditorien teilgenommen. Eine Begebenheit ist mir dabei ganz besonders in Erinnerung geblieben, weil sie mich berührt und nachdenklich gemacht hat. Bei einer Buchvorstellung in einem privat organisierten „Literatursalon“ in Hamburg wies mich die Gastgeberin zu Beginn auf einen Teilnehmer hin, der Mitglied oder zumindest Anhänger der AfD sei, und der Europa und der europäischen Einigung äußerst kritisch gegenüber stehe. Ich habe nie erfahren, ob sie mich damit vorwarnen wollte, denn während der Diskussion blieben von seiner Seite europakritische Äußerungen aus. Dafür kam er nach der Veranstaltung mit zwei nach der Diskussion erworbenen Exemplaren des „9. Mai…“ auf mich zu und bat, diese für seine Enkelinnen zu signieren. Er, so erklärte er mir, sei bisher alles andere als ein „überzeugter Europäer“ gewesen, doch an diesem Abend habe er erkannt, wie wichtig dieses Projekt vor allem für seine Kinder und Enkelkinder sei. In diesem Moment war mein Gedanke: wenn du mit deinem Buch solches erreichen kannst, dann haben sich alle Mühen gelohnt.
Ihr Stefan Alexander Entel