Was wäre, wenn er käme: Der Exit vom Brexit?
„To be or not to be, that´s the question“ – dieses Zitat aus William Shakespears Hamlet kommt einem in den Sinn angesichts der offensichtlich nicht enden wollenden Spekulationen, ob es vielleicht nicht doch noch kurz vor Toresschluss zu einem Exit vom Brexit kommt. Womit sich die Frage stellt, was dann? Was also wäre, wenn es sich die britische Regierung unter wem auch immer, aus welchen Gründen auch immer, doch noch einmal anders überlegt?
Heißt es dann: alles zurück auf Anfang?
Wenn dem so sein sollte, steckt die Europäische Union mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einem sehr viel größeren Schlamassel als mit dem Brexit.
Warum das so ist, oder zumindest sein kann, dazu gleich. Einstweilen gilt es, das Augenmerk auf eine ganz simple juristische Frage zu richten.
Kann die britische Regierung überhaupt durch eine einfache Erklärung das Brexit- Verfahren rückgängig machen und damit quasi en passant den Status quo mit allen Sonderrechten, die das Vereinigte Königreich sich seit seinem Beitritt in die Gemeinschaft im Jahre 1973 zum Teil, das muss man in dieser Deutlichkeit sagen, politisch „erpresst“ hat, wiederherstellen?
Oder, um es abstrakter zu formulieren: Kann ein Mitgliedstaat, wenn er den inzwischen berühmten Art 50 des EU- Vertrages gezogen hat, also seinen Austritt aus der Union erklärt hat, diesen letzten Endes allein dadurch doch noch verhindern, indem er erklärt, er habe es sich inzwischen anders überlegt?
Das kann er wohl nicht. Weder ergibt sich ein solches Recht oder eine solche Möglichkeit aus dem Regelwerk der Europäischen Union noch aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Juristen sprechen davon, dass eine Kündigung eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ist. Soll heißen, eine Kündigung (nichts anderes ist auch die Erklärung nach Art. 50 EU- Vertrag) ist wirksam, wenn sie ausgesprochen und von der anderen Seite zur Kenntnis genommen, bzw. empfangen worden ist. Mithin, durch eine einseitige Erklärung kann strenggenommen de jure die britische Regierung den Brexit nicht rückgängig machen und die Mitgliedschaft in der EU fortführen. Vielmehr bedürfte es hierzu einer (vertraglichen) Verständigung zwischen den Parteien, sprich der EU und dem Vereinigten Königreich.
Und genau an diesem Punkt wird es interessant. Interessant deshalb, weil sich damit die Möglichkeit, mehr noch die Notwendigkeit, eröffnet, die Bedingungen der Mitgliedschaft in der EU neu zu justieren. Mit dem Sonderstatus des Vereinigten Königreichs muss es dann nämlich ein Ende haben. Der Preis für eine weitere Mitgliedschaft muss nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte die Geltung der gleichen Bedingungen sein, die für alle anderen auch gelten. Eine Union bedingt Gleichheit, d.h. gleiche Rechte und Pflichten für alle Mitgliedstaaten und alle Bürger. Anders wird in Europa kein Schuh daraus.
Schon Jean Monnet, der „Erfinder“ Europas, hat, obwohl aufgrund seiner Vita sehr anglophil eingestellt, im Zuge der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, für die Robert Schuman das Vereinigte Königreich unbedingt als Mitglied gewinnen wollte, eindringlich davor gewarnt, ihnen Sonderrechte einzuräumen, nur um es zu einer Beteiligung am europäischen Projekt zu bewegen. Würde man es dennoch tun, so war er überzeugt, gefährde man das Projekt der europäischen Integration. Für wahr, er hat recht behalten!
Nicht nur, dass mit dem Beitritt des UK zur Gemeinschaft im Jahre 1973 sukzessive das ursprüngliche Ziel der europäischen Einigung, wie es in der Erklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950 postuliert worden ist, die Schaffung einer europäischen Föderation, verwässert worden ist, mehr noch haben nahezu alle Regierungen ihrer Majestät vieles von dem, was in Richtung mehr Integration zielte, torpediert, oder dazu genutzt, für die Insel Ausnahmeregelungen herauszuschlagen. Als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das schwierige Verhältnis des Vereinigten Königreiches zu der Union gilt der sog. Britenrabatt, den Maggie Thatcher 1984 den anderen Partnern abgerungen hat. „I want my money back“, dieser Ausspruch, der fast schon zu einem geflügelten Wort geworden ist, dokumentiert das britische Verständnis von der Solidargemeinschaft, die die Europäische Union sein soll. Den aus dem Britenrabatt entstandenen Fehlbetrag haben fortan Deutschland und Frankreich zusätzlich zu ihren normalen Leistungen im Verhältnis zwei zu eins übernommen.
„I want my money back“, hat nicht unmaßgeblichen Anteil an dem Entstehen der unsäglichen und bei Lichte betrachtet geradezu blödsinnigen Diskussion um Nettozahler und Nettoempfänger innerhalb des Gemeinwesens Europäische Union. Aber das nur am Rande.
Es lassen sich mannigfaltige Beispiele britischer Sonderregelungen aufführen. Die Weigerung, der Sozialcharta oder dem sog. Schengen- Abkommen beizutreten, sind nur zwei davon.
All das konnte und kann eigentlich nicht überraschen. In einem Manifest der Labour- Party war einst zu lesen: „Wir sind durch Sprache, Herkunft, Sitten, Institutionen, politische und Interessenskonzeptionen Australien und Neuseeland näher als Europa“.
Dass sich daran in den letzten Jahrzehnten trotz Mitgliedschaft in der Gemeinschaft viel geändert hat, kann man zumindest bezweifeln. Auch wenn vieles von dem, was die Europäer heute als ihren gemeinsamen Wertekanon rühmen, angelsächsischem Geist entsprungen ist – erinnert sei nur an John Locke, den Vordenker der Aufklärung-, auch wenn Engländer, Waliser und Schotten unbedingt zu der Kulturgemeinschaft zählen, die die europäischen Völker bilden, in mentaler Hinsicht scheint dennoch die Distanz zwischen der Insel und Kontinentaleuropa größer als eine Schiffsreise von Calais nach Dover über den Ärmelkanal oder ein Flug von Brüssel nach London vermuten lassen.
Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte lehrt uns in Anlehnung an ein Wort Willy Brandts: Nicht alles, was kulturell zusammengehört, lässt sich politisch vereinigen! Ein Gemeinwesen wie die Europäische Union kann auf Dauer nur funktionieren, wenn es auf dem Prinzip der Gleichheit der Rechte und Pflichten aller so miteinander verbundenen Länder und Völker gründet.
Dessen müssen sich die Briten bewusst sein, sollte es entgegen aller anderslautenden Erklärungen aus London doch noch zu einem neuerlichen Referendum über den Brexit kommen. Dessen müssen sich dann auch die Verantwortlichen in Brüssel bewusst sein, wenn sie im Falle eines Falles ihr Plazet zur Fortsetzung der Mitgliedschaft in der EU formulieren.
Last but not least: Ist es nicht Ironie der Geschichte, dass es mit Michel Barnier ein Franzose ist, der die Brexit- Verhandlungen für die EU führt, mithin den Briten den Weg aus der Union bereitet, wo es doch ein Franzose war, der zwei Mal den Briten den Beitritt zur EWG mit seinem Veto verwehrt hat und dies mit der skurril anmutenden Begründung: „Großbritannien darf nicht herein, weil es eine Form europäischer Einheit ablehnt, die ich übrigens auch ablehne“? Die Rede ist von Charles de Gaulle!