Was verbindet die Menschen in Europa

Vortrag gehalten beim Europaverein Eschweiler am 5.12. 2018

Sehr geehrter Herr Schöner,

verehrte Damen, meine Herren!

Was verbindet die Menschen in Europa? So lautet die Frage, über die ich hier und heute sprechen soll. Und weiter heißt es in der Ankündigung quasi als Antwort auf  diese Frage: „Immer wieder wird auf die Kultur verwiesen“.

Fasst man beides zusammen, so lautet die Frage: „Verbindet die Kultur die Europäer?

Ich bin Jurist und Juristen würden bei einer solchen Fragestellung in der Regel antworten: Es kommt darauf an!

Im Ernst: Es kommt darauf an, was wir in dieser Fragestellung unter „Europa“ auf der einen und unter „Kultur“ auf der anderen Seite verstehen.

Wenn wir im Kontext Europas von der Kultur, namentlich von dem geistig-kulturellen Erbe der Europäer und dessen integrative Wirkung sprechen, so meinen wir damit nicht vorrangig die schönen Künste, die Malerei, die Literatur, die Musik, auch wenn man die Bedeutung dieser kulturellen Facetten aus vielerlei Gründen nicht unterschätzen darf. Ich komme darauf später noch zurück.  Nein, mit dem geistig-kulturellen Europa assoziieren wir in erster Linie die Philosophie, die politische Kultur und damit in letzter Konsequenz einen Wertekanon, der sich hieraus entwickelt hat.

Wenn wir heute von Europa sprechen, so meinen wir dies in der Regel nicht mehr  im geografischen Sinne. Wir meinen nicht den Kontinent, der im Westen an den Atlantik und im Osten an den Ural grenzt. Dieses geografische Europa war nie eine Wertegemeinschaft, war nie eine geistig-kulturelle Einheit. Insoweit ist der Satz des ersten Bundespräsidenten der BRD, Theodor Heuß, Europa sei geistig-kulturell auf drei Hügeln erbaut, dem Aeropag in Athen als Symbol für das griechische Denken über Demokratie, dem römischen Capitol als Symbol für die res publica, das römische Denken über Bürger und Staat und Golgatha als Sinnbild für das christliche Denken von Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit, in dieser Pauschalität nicht ganz zutreffend. Richtig ist, dass der westliche Teil Europas, also der Teil, den heute wesentlich die Europäische Union umfasst, tatsächlich hierin seine geistig-kulturellen Wurzeln findet.

Und hier begegnen wir einem Phänomen, dem in meinen Augen viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. „Europa“, der geografische Begriff „Europa“, ist längst in unserem Sprachgebrauch zum Synonym für ein politisches Ordnungsmodell geworden- die Europäische Union. Wenn wir also von Europa sprechen, meinen wir in 95% der Fälle die Europäische Union. Und wenn wir von „den Europäern“ sprechen, meinen wir damit in der Regel die über 450 Millionen Menschen, die sich EU-Bürger, nennen können, weil sie Angehörige eines der 27 Mitgliedstaaten der EU sind. Sie sehen, meine Damen und Herren, wie sich unsere Begriffswelt, bzw. unser Begriffsverständnis in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.

Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage: Was ist die Europäische Union und was verbindet ihre Bürgerinnen und Bürger?

Um das gleich vorweg zu nehmen: Die Europäische Union ist mehr als ein Binnenmarkt und es ist nicht (nur) der Binnenmarkt, der uns Europäer, die wir Bürger dieser EU sind, eint. Menschen leben nicht in Märkten sondern in Gemeinschaften!

Und in unserem Falle hat diese Gemeinschaft drei Facetten: Kultur,- Werte- und Rechtsgemeinschaft.

Die „Rechtsgemeinschaft“ spiegelt sich darin wider, dass mit der EU ein politisches Gemeinwesen entstanden ist, das über 450 Millionen Staatsbürger aus 27 Staaten zu einer Gemeinschaft gleichberechtigter Unionsbürger vereinigt hat.

Das geistig-kulturelle Fundament dieses Gemeinwesens ist die Kultur- und Wertegemeinschaft, die die Europäer bilden.

Jean-Jacques Rousseau hat vor über 200 Jahren davon gesprochen, dass „die europäischen Völker eine Gesamtnation bilden.“ Mich verleitet diese These zu der Überlegung, ob wir Europäer (Unionsbürger) nicht vielleicht so etwas wie eine Kulturnation sind.

Wenn wir eine „Nation“ begreifen als ein Kollektiv von Menschen mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen kulturellen Traditionen und Abstammung, dann erscheint diese Überlegung auf den ersten Blick nicht nur mutig, sondern sogar völlig abwegig. An der gemeinsamen Sprache scheitert es bekanntlich bereits.

Doch, was auf den ersten Blick gänzlich abwegig erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehe zumindest als durchaus nachdenkenswert.

Wir sprechen zwar nicht die gleiche Sprache, aber uns eint ein gemeinsames Menschenbild und Gesellschaftsmodell. Dieses ist das Ergebnis eines über Jahrtausende währenden Zivilisationsprozesses, der seinen Ursprung in der griechisch-römischen Antike findet. Sie erinnern sich an das Bild von den drei Hügeln. Unser Europa ist von einer 2.000-jährigen, christlichen Tradition geprägt, von antiker und mittelalterlicher Philosophie, vom Humanismus der Renaissance und von großen Denkern der Aufklärung wie Kant und Voltaire. Gerade die Aufklärung, also die Epoche zwischen 1690 und 1800, die Immanuel Kant als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit bezeichnet hat, hat maßgeblich unser Menschen-und Gesellschaftsbild geprägt. „Sapere aude“ war sein Credo, was frei übersetzt so viel heißt  wie: Habe Mut, deinen Verstand zu gebrauchen!

Das Bedauerliche dabei ist nur, dass es einst wie auch heute zuweilen weniger am Mut als mehr am Verstand selbst mangelt. Aber das ist ein anderes Thema.

Die im Geist der Aufklärung von Europa ausgehende Mitteilung an die Welt lautete: Alle Menschen sind gleich geschaffen und von Natur aus mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet: Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück!

Dieser Geist der Aufklärung hat sich erstmalig in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 manifestiert und ist dann mit der Erklärung der Bürger-und Menschenrechte der französischen Nationalversammlung am 26. August 1789, also vor dem Hintergrund der Französischen Revolution zum europäischen Allgemeingut geworden. Diese „Erklärung der Bürger- und Menschenrechte“ von 1789, die so etwas wie die Mutter aller Grund- und Menschenrechtskonventionen geworden ist, nennt im Wesentlichen diese Prinzipien:

  1. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.
  2. Der Zweck jeder staatlichen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.
  3. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Die Grenzen der Freiheit können allein durch das Gesetz bestimmt werden.
  4. Das Gesetz darf nur solche Handlungen verbieten, die der Gesellschaft schaden.
  5. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken.
  6. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, weshalb sie alle gleichermaßen, ihren Fähigkeiten entsprechend und ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Eigenschaften und Begabungen, zu allen öffentlichen Ämtern und Stellungen zugelassen sind.
  7. Niemand darf wegen seiner Anschauungen belangt oder bedrängt werden. 8. Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte.

Im Geist der Aufklärung wird das selbstbestimmte Individuum  zum Protagonisten der europäischen Zivilisation!

Dieses Menschenbild prägt unser europäisches Gesellschaftmodell. Ein Gesellschaftsmodell, das von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, unabhängig von irgendwelchen Umständen. Ein Gesellschaftsmodell, das eine Befreiung von allen Mechanismen bedeutet, die diesem freiheitlichen Leben entgegenstehen. Die großen Konzepte sind dabei Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sofern man Brüderlichkeit mit „solidarischem Zusammenleben“ übersetzt.

In dem Geist der Aufklärung findet unser heutiges Verständnis von Freiheit seine Quelle. Demzufolge bedeutet Freiheit: in individueller Selbstbestimmung, ausgestattet mit unverzichtbaren und unteilbaren Rechten, frei von äußeren Zwängen und Unterdrückung, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – verbunden mit der Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. In der EU hat diese Idee von Freiheit ihren Niederschlag in der Unionsbürgerschaft gefunden.

„Europa ist für den französischen Philosophen Bernhard Lévy „kein Ort, sondern eine Idee, keine Kategorie des Seins, sondern des Geistes.“ Was auch immer er damit meint, richtig ist, dass Europa (Westeuropa) stets auch  ein Ort des Geistes war. Wir Europäer sind die „Erfinder“ von Menschenrechten, von Individualismus, von Liberalismus, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese geistig-kulturellen Errungenschaften bilden das Gerüst unseres europäischen Lebens-und Gesellschaftsmodells. Und, was in diesem Kontext nicht vergessen werden darf, ist der Säkularismus, also die Trennung von Kirche und Staat.

Demokratie, meine Damen und Herren, bedeutet mehr als die bloße Existenz eines Parlamentes, mehr als freie und faire Wahlen und mehr als die Herrschaft der Mehrheit. Demokratie umfasst den Schutz von Minderheiten, die Kontrolle von Regierung und Verwaltung, Rede-, Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Gerichte. Alles das sind essentielle Elemente einer Demokratie, wie sie in Europa seit der Antike entwickelt worden ist.

Und Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform. Demokratie ist zugleich eine Lebensform, mit der wir die Freiheit zur persönlichen Entfaltung und vor allem zur gesellschaftlichen Mitbestimmung in allen Lebensbereichen verbinden. Demokratie drückt sich im Respekt vor dem anderen aus.

Wie sehr muss es uns dann eigentlich umtreiben, dass laut einer Studie nur noch die Hälfte der jungen Europäer im Alter zwischen 16 und 26 Jahren sich zur Demokratie bekennen. Was mag in den Augen der anderen Hälfte  die Alternative sein?

Mir scheint in weiten Kreisen unserer Gesellschaft, insbesondere bei den jüngeren Europäern, nicht oder nicht mehr präsent, dass vor nicht einmal 30 Jahren die Menschen in Prag, in Budapest, in der ehemaligen DDR und an anderen Orten Europas auf die Straße gegangen sind, um allen drohenden Repressalien zum Trotz im Namen Europas für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Ich komme noch einmal darauf zurück.

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte sind europäische Ideen, nicht asiatische, nicht afrikanische, nicht nahöstliche.

Diese Ideen bilden den europäischen Wertekanon. Sie sind Ausdruck und Fundament der der geistig-kulturellen Einheit Europas.

Diese geistig-kulturelle Einheit Europas beweist sich aber auch an anderer Stelle.

Was der Nationalismus, der in Europa aktuell fröhliche Urständ feiert, selbst in Zeiten seiner exzessivsten Ausprägung nicht zu verhindern, geschweige denn zu zerstören vermochte, ist der alle politischen Grenzen überwindende kulturelle Austausch. Die Kunst, die Literatur, die Wissenschaft haben sich nie an politische Grenzen gehalten. Selbst in Phasen des exzessivsten Nationalismus hat es den kulturellen Austausch gegeben. Die Musik ist europäisch geblieben, die Kunst und die Literatur sind, sofern sie nicht von politischen Machthabern instrumentalisiert wurden, europäisch geblieben. Die Zentren der geistigen Ausstrahlung haben dabei häufig gewechselt: Bologna, Prag, Paris, Rom, Madrid, Genf, Weimar.  Nationalisten waren stets bestrebt, die politischen Grenzen der Nationalstaaten mit den von ihnen definierten kulturellen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen. Das hat aber in Europa nie funktioniert, eben weil die Europäer unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit ein tiefes geistig-kulturelles Band eint.

Aus dieser geistig-kulturellen Einheit Europas speist sich seit Jahrhunderten der Traum von der politischen Einheit Europas, der Vereinigung der Völker Europas in Frieden und Freiheit. Ich erinnere nur an Victor Hugo, der  1849 bei einer Rede in Paris den Europäern prophezeit hat:

Der Tag wird kommen, an dem du Frankreich, du Russland, Italien, England, Deutschland, ihr alle, die Nationen des Kontinents, ohne eure unterschiedlichen Eigenschaften und ruhmreiche Individualität zu verlieren, euch zu einer höheren Einheit vereinigen und ihr die europäische Brüderlichkeit errichten werdet, genauso wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, Elsass, alle unsere Provinzen sich in Frankreich zusammengeschlossen haben. Der Tag wird kommen, an dem die Kugeln und Bomben durch die Abstimmung, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch das wirkliche Schiedsgericht eines großen souveränen Senats ersetzt werden, der in Europa das sein wird, was in England das Parlament, in Deutschland der Reichstag, in Frankreich die gesetzgebende Körperschaft ist.“

Dieser Traum hat sich seit dem 9. Mai 1950 Stück für Stück immer mehr erfüllt. Heute leben über 450 Millionen Menschen aus 27 Nationen als gleichberechtigte Unionsbürgerinnen und- Bürger in einem gemeinsamen Haus der Freiheit und des Friedens zusammen. Der Name dieses Hauses: Europäische Union! Das ist die höhere Einheit, von der Victor Hugo vor über 150 Jahren spricht und mit dem Europäischen Parlament haben wir tatsächlich so etwas, wie das Schiedsgericht eines großen Senats.

Mit der Europäischen Union ist die geistig-kulturelle Einheit Europa  basierend auf einer langen Geschichte und vor allem resultierend aus den Erfahrungen des II. Weltkrieges in eine definitive politische Ordnung überführt worden. Das geistige Fundament dieses gemeinsamen Hauses des Friedens und der Freiheit ist das europäische Menschen-und Gesellschaftsbild, das durch die gemeinsamen Werte und Ideale geprägt ist. Hieraus legitimiert sich die Europäische Union, wie es die Charta der Grundrechte nachdrücklich zum Ausdruck bringt:

„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedvolle Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistigen, religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“

Aber, meine Damen und Herren, es reicht nicht aus, diese Wertegemeinschaft nur feierlich zu beschwören. Diese Werte müssen zum Maßstab der Politik gemacht werden, sonst verliert die Europäische Union an Glaubwürdigkeit und Legitimation.

Vor allem müssen wir zur Kenntnis nehmen:  Dieser Wertekanon, dieses europäische Lebens-und Gesellschaftsmodell, sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer fast drei Jahrtausende währenden politischen und geistigen Kulturgeschichte; eines von Brüchen und Rückschlägen gezeichneten Zivilisationsprozesses. Und dieser Wertekanon ist immer wieder verraten worden. Gerade jetzt schicken wir uns wieder an, einen erneuten Verrat an unserem Lebens-und Gesellschaftsmodell zu begehen, bzw. einen solchen Verrat zuzulassen.

Gerade in puncto Demokratie erleben wir in jüngster Zeit Entwicklungen, die uns nachdenklich stimmen sollten. In einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten, so insbesondere in Ungarn und Polen propagiert man eine neue Form der Demokratie, die illiberale Demokratie.

Mit all dem hat das, was Victor Orban in Ungarn und ihm Gleichgesinnte in Polen oder in anderen europäischen Staaten seit geraumer Zeit praktizieren, nicht viel zu tun. Auf einen einfachen Nenner gebracht verbirgt sich hinter dem Begriff „illiberale Demokratie“ ein System, in dem Politiker zwar vom Volk gewählt werden, aber nicht dessen politische  Grundrechte respektieren, sondern diese effektiv einschränken. Das gilt in Ungarn oder Polen, wie wir wissen, insbesondere in Bezug auf die Presse- und Meinungsfreiheit, aber auch in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit. Nichtregierungsorganisationen werden Restriktionen unterworfen, einer privaten Universität droht die Schließung.

Jean-Claude Juncker bezeichnet Orban gerne als „kleinen Diktator“. Dass dies scherzhaft gemeint ist, wage ich zu bezweifeln. Das System Orban nimmt zunehmend Züge einer Diktatur an.

Kurzum:  Der Begriff Illiberale Demokratie ist die beschönigende Formel für ein System, das alles andere ist als eine Demokratie im Sinne unseres europäischen Wertekanons. Mit solchen Entwicklungen gerät unser europäisches Lebens-und Gesellschaftsmodell in Gefahr.

Aber ich sehe diese Gefahr auch noch an anderer Stelle. Sie erinnern sich vielleicht an die „marktkonforme Demokratie“, von der uns vor ein paar Jahren die deutsche Bundeskanzlerin zu überzeugen suchte. Was auch immer das sein soll, der Begriff zeugt von einem zumindest merkwürdigen Demokratieverständnis. Überlegungen, demokratische Meinungs-und Willensbildung in den Dienst ökonomischer Effizienz stellen zu wollen, dokumentieren für mich ein eklatantes Unverständnis europäischer Werte und zivilisatorischer Errungenschaften.  Ein demokratisches Gemeinwesen ist nun einmal kein Wirtschaftsunternehmen, auch wenn Gerhard Schröder  so gerne von der „Deutschland AG“ gesprochen hat.

Willy Brandt hat einmal sehr treffend bemerkt: „Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“

Vor dem Hintergrund des gerade zu unserem gemeinsamen Lebens-und Gesellschaftsmodell gesagten, stellt sich das, was wir seit den 1950er Jahren die europäische Integration nennen, nicht als künstlicher, sondern vielmehr als ein organischer Vorgang dar.

Oder, um ein weiteres Wort Willy Brandts aufzugreifen: Hier wird politisch vereint, was geistig-kulturell zusammengehört.

Aber umgekehrt gilt genauso: Was geistig-kulturell nicht zusammengehört, kann politisch nie wirklich vereinigt werden. Damit spiele ich, Sie werden es bemerkt haben, auf eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der EU an. Es geht jedoch nicht nur um die Türkei. Generell müssen wir uns vergegenwärtigen, dass jede Erweiterung der EU nicht nur unter geostrategischen oder ökonomischen Aspekten geprüft werden darf. Wenn wir es ernst nehmen mit der Wertegemeinschaft EU und unserem Gesellschaftsmodell, dann spielt die geistig-kulturelle Frage eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.

Nun mag man sich fragen, wie in diesem Kontext der Brexit einzuordnen ist. Hier zeigt sich eine gewisse Ambivalenz. Das Vereinigte Königreich ist zweifelsfrei ein wesentlicher Teil unseres Europas. Das gilt nicht nur geographisch, das gilt umso mehr noch geistig-kulturell. Vieles von dem, was  heute zu unserem gemeinsamen Wertekanon zählt, ist angelsächsischem Geist entsprungen. Ich erinnere nur an John Locke, den Vordenker der Aufklärung. Engländer, Waliser, Schotten und Iren gehören ohne Wenn und Aber geistig-kulturell zur  europäischen Familie.

Das, was die Briten und Kontinentaleuropäer jedoch entscheidend mental trennt, ist das völlig unterschiedliche Staats- und Verfassungsverständnis. Das politische System des Vereinigten Königreiches kennt anders als das der kontinentalen EU-Staaten keine kodifizierte Verfassung. Was das Parlament, bestehend aus Unter-und Oberhaus beschließt, gilt. Vor diesem Hintergrund fällt es den Briten verständlicherweise schwer, mit dem Europäischen Parlament eine darüber stehende parlamentarische Instanz zu akzeptieren. Die Briten hatten von Beginn ihrer Mitgliedschaft in der EG und jetzt in der EU stets nur die wirtschaftlichen Vorteile im Blick, nicht aber eine politische Union. Eine Freihandelszone war und ist das, was ihren Vorstellungen am nächsten kommt. So kann es nicht verwundern,  dass sie eigentlich in diesem Europa nie angekommen sind. Stattdessen haben sie von Beginn an alles torpediert, was in Richtung mehr Integration ging. Oder man hat sich Zugeständnisse teuer abringen lassen.

Kurzum: Der Brexit ist für mich der Beweis, dass nicht alles, was geistig-kulturell zusammengehört auch politisch vereinigt werden kann!

Meine Damen und Herren, alles, was ich bisher zur geistig-kulturellen Einheit Europas gesagt habe, steht nicht im Widerspruch zu der vielgerühmten kulturellen Vielfalt Europas. Im Gegenteil.

Mit der geistig-kulturellen Einheit und der kulturellen Vielfalt Europas verhält es sich wie mit einem Baum: So vielschichtig und verzweigt sich das Geäst auch aus dem Stamm heraus entwickelt haben mag, alles entspringt einer Wurzel. In seiner Gesamterscheinung bleibt der Baum eine Einheit!

Für das geistig-kulturelle Europa bedeutet das: Aus gemeinsamen Wurzeln ist ein Stamm gemeinsamer Werte erwachsen und ein Geäst vielfältiger Traditionen. In der Gesamtschau bleibt es dennoch eine Einheit. In Europa nennt man es die „Einheit in der Vielfalt“!

Wo könnte  diese Metapher besser passen als in Bezug auf das Weihnachtsfest. Dr. Klaus Löffler spricht in seinem „Europa-Weihnachtsbuch“ von dem „schönsten Kristallisationszweig am Lebensbaum europäischer Kultur“.

Weihnachten ist ein christlich-religiöses Fest, das herausragende Fest des Kirchenjahres. Es wird eigentlich gefeiert zum Gedenken an Christi Geburt. Ich sage „eigentlich“, weil in unserer Gesellschaft zunehmend der eigentliche Sinn dieses Festes in Vergessenheit geraten ist. Kritische Geister beklagen nicht ganz zu Unrecht die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes als eine Pervertierung dieses christlichen Hochfestes.

Wie auch immer: Weihnachten ist ein christliches Fest. Das Christentum ist ein maßgeblicher Teil des geistig-kulturellen Fundamentes Europas. Es hat unser europäisches Menschen-und Gesellschaftsbild nachhaltig geprägt. Daran ändert auch nichts die seit geraumer Zeit von Politikern so gern reklamierte Zugehörigkeit des Islams zu Europa. Wenn damit gemeint ist, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit auch für den Islam genauso wie für das Christentum oder das Judentum gilt, dann kann ich dieser Feststellung beipflichten. Wenn damit jedoch unterschwellig vermittelt werden soll, dass beispielsweise die Scharia als religiös legitimiertes juristisches System des Islam in Europa Anwendung finden kann, widerspreche ich dem entschieden. Religiöse Vielfalt ja, rechtlicher Pluralismus nein. Unser Rechtssystem gründet auf dem europäischen Wertekanon. Jeder Versuch, diesen zu relativieren oder gar aufzukündigen, zerstört das Fundament der europäischen Bürgergesellschaft. Es ist weniger die von den Populisten als Bedrohungsszenario ausgemachte vermeintliche Islamisierung unserer Gesellschaft, die mich umtreibt. Es ist die Leichtfertigkeit, mit der wir unsere Werte, Ideale und Traditionen als Europäer einem vermeintlichen Zeitgeist opfern, die mir Angst macht. Ich kann nur raten, weniger dem Zeitgeist zu huldigen, als sich vielmehr  Zeit für Geist zu nehmen.

Die Europäer müssen aufpassen, nicht zu einer feigen Kompromissgesellschaft zu degenerieren.

Ich danke, dass Sie mir so lange Ihr Gehör geschenkt haben.