Neue Vision für Europa vertagt
Wenn einer der Gründerväter des europäischen Projektes in die heutige Zeit gebeamt würde, welche drei Errungenschaften und Stärken der Europäischen Union würde er für besonders bedeutungsvoll und unerwartet halten?
Mit dieser Frage, so ist einem am 23.2. bei EurActiv erschienen Beitrag zu entnehmen, haben sich die Mitglieder der Kommission in ihrer Sitzung am Vortage intensiv auseinandergesetzt. Was auch immer dabei herausgekommen sein mag, die Antwort liegt geradezu auf der Hand. Dies gilt zumindest dann, wenn man sich der Anfänge Europas, der Motive und Visionen der Gründerväter Europas, Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer, erinnert.
Was gerade in Erwartung des 60. Jahrestages der Römischen Verträge leicht in Vergessenheit gerät, die eigentliche Geburtsstunde Europas datiert auf den 9. Mai 1950 und es war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, mit der das Fundament unserer heutigen Europäischen Union gegossen worden ist.
Was also sind diese drei Errungenschaften?
Zum ersten: Die Europäische Union hat über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus (derzeit) 28 Staaten zu einer Gemeinschaft gleichberechtigter Unionsbürger vereinigt. Damit hat sich das Credo Jean Monnets, in Europa gelte es nicht, Staaten zu koalieren, sondern Menschen zu vereinen, erfüllt. Europa war für ihn stets weniger eine Gemeinschaft von Staaten, als vielmehr eine Union der Bürger.
Die Rechtsgemeinschaft macht die EU zu einem politischen und gesellschaftlichen Ordnungsmodell im Sinne der Idee Europa und schafft die Rahmenbedingungen für die Union der Bürger. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die mit der Unionsbürgerschaft geschaffen worden ist, ist die einzige Art von Gleichheit, die die Freiheit des Menschen garantiert und fördert. Deshalb ist mit der Unionsbürgerschaft Europa zu einem „gemeinsamen Haus der Freiheit geworden“, wie es sich Konrad Adenauer vorgestellt hat.
Zum zweiten: Das demokratisch direkt gewählte Europäische Parlament als Repräsentanz der Unionsbürger und damit das Instrument der „Union der Bürger“. Die erste Direktwahl zum EP im Juni 1979 hatte für viele Menschen, die noch den Krieg miterlebt hatten, eine hohe symbolische Bedeutung. Eine Rentnerin fasste am Abend der Wahl im französischen Fernsehen das zusammen, was viele empfunden haben: „Wenn wir gemeinsam ein Parlament wählen, bedeutet dies, dass der Krieg endgültig vorbei ist.“
Zum dritten: In der Erklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950 heißt es u.a.:
Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern- die erste Etappe der europäischen Föderation…“
Heute, 67 Jahre später: Die Europäische Union ist ein föderativ strukturiertes Gemeinwesen, in dem auf drei Ebenen politische Entscheidungsfindung und Rechtssetzung erfolgt, der Unionsebene, der staatlichen Ebene und der regionalen Ebene.
Das ist es, was man sieht, wenn man die EU unvoreingenommen aus einem europäischen Blickwinkel betrachtet. Zuweilen hilft ein Perspektivwechsel.
Was braucht die EU in diesen Zeiten, in der sie sich in einer mentalen Depression zu befinden scheint?
Die Antwort: Europa braucht eine neue Idee von sich selbst.
Europa braucht eine öffentliche Debatte darüber, wie wir als Unionsbürger leben wollen. Dabei geht es zunächst nicht um Institutionen und Machtzuteilung.
Die Zeiten, in denen man glaubte, man könne Europa schweigend bauen, der Konsens stelle sich schon irgendwie ein, sind endgültig vorbei. Gleiches gilt für das lange Zeit geltende Dogma, dass man die Grundsatzfragen liegen lassen und sich nur auf praktische Fortschritte konzentrieren könne. Will man die Menschen für die „Idee Europa“ wiedergewinnen, dann muss man miteinander über das gemeinsame Ziel offen und öffentlich diskutieren.
Es geht um die Frage, wie wir Europäer in Zukunft leben wollen, wie es gelingt, unseren gemeinsamen Wertekanon, auf dem die europäische Bürgergesellschaft gründet, zu verteidigen und im Bewusstsein der Bürger zu verankern. Wir Europäer müssen uns für einen Wettbewerb auf höheren Ebenen wappnen. Es geht nicht nur um den Wettbewerb um Arbeitsplätze und materiellen Wohlstand, sondern auch um den Wettbewerb um Lebensformen, Weltanschauungen und Philosophien. Es geht um die Bewahrung unserer kulturellen Identität.
Mithin ist es hohe Zeit, dass sich die Europäer darüber im Klaren werden, in welcher Gemeinschaft sie in Zukunft leben wollen, was die Europäische Union sein will und sein soll. Eine solche Debatte beantwortet letztendlich auch die Frage, wer zu dieser „immer engeren Union der Völker Europas“ gehören will und wer nur spezielle Beziehungen zu ihr unterhalten will. Es ist geradezu eine ideologische Debatte, die geführt werden muss. Nämlich eine Auseinandersetzung darüber, ob wir Europa im Sinne seiner Idee als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell, das die Menschen ungeachtet ihrer Nationalität unter dem Dach einer Rechts- und Werteordnung vereint, zu Ende bauen wollen – oder ob wir rückwärtsgewandt der Ideologie des Nationalstaates folgen.
In der Verantwortung um das europäische Einigungswerk und zukünftige Generationen ist diese Debatte zu führen. Europa ist heute mit einer neuen Idee zu verbinden, weil eine Gesellschaft ohne Visionen eine Generation ohne Perspektiven hinterlässt.