Europa lesen. Hamburger Autorengespräche: Auftaktveranstaltung am 28. Februar 2018
„9. Mai 1950-die Geburtsstunde Europas“- welcher Buchtitel wäre wohl passender gewesen zum Auftakt von „Europa lesen. Hamburger Autorengespräche“, des neuen Veranstaltungsformats der Europa-Union Hamburg, das am 28. Februar in der Buchhandlung boysen+mauke seine Premiere erlebt hat. Sinn und Zweck von „Europa lesen“ sind es, Europa durch die Literatur neu zu entdecken, einen anderen Blickwinkel auf Europa zu eröffnen.
Das Gespräch mit dem Autor des Buches „9. Mai 1950 – die Geburtsstunde Europas“ , Stefan Alexander Entel, der von sich sagt, er sei aus Zufall Deutscher, aus Überzeugung Europäer, bot hierzu die Möglichkeit, vor allem aber auch die Gelegenheit, Europa wieder zu entdecken. Um diese „Wiederentdeckung“ Europas, der Idee der europäischen Einigung, sei es ihm angesichts der verbreiteten Europaverdrossenheit und der Renaissance des Ungeistes des Nationalismus bei seinem Buch gegangen, wie er im Gespräch mit der Landesvorsitzenden der Europa-Union Hamburg, Sabine Steppat, erläuterte. So dokumentiert sein Buch zunächst in einer äußerst spannenden Weise die Ereignisse am und um den 9. Mai 1950, dem Tag, an dem der französische Außenminister Robert Schuman den nach ihm benannten Plan zur Zusammenlegung von Kohle- und Stahlproduktion der ehemaligen Kriegsgegner in einer europäischen Gemeinschaft der Öffentlichkeit vorstellte und damit den entscheidenden Wendepunkt in der europäischen Geschichte markiert hat. Dabei zeichnet das Buch nicht nur die Ereignisse selbst im Wechselspiel zwischen Bonn und Paris an eben jenem historischen Tag nach, sondern porträtiert zugleich die entscheidenden Akteure, Robert Schuman, Konrad Adenauer und vor allem Jean Monnet, den eigentlichen Urheber des Schuman-Planes, und setzt sich dabei intensiv mit den Motiven dieser drei „Väter Europas“ auseinander.
Hieraus bot sich für die Moderatorin die Gelegenheit, den einen oder anderen Aspekt in der Vita der „Väter Europas“ näher zu hinterfragen. So galt ihr besonderes Interesse nicht zuletzt wegen des Brexits dem von Jean Monnet im Juni 1940 initiierten Projekt einer „Anglo-French Union“, das eine vollständige Fusion der beiden Länder Großbritannien und Frankreich bedeutet hätte. Ein Projekt, das von Winston Churchill und Charles de Gaulle aufgegriffen und forciert wurde, letztendlich jedoch an einer Intrige des Vichy-Regimes in Frankreich am 16. Juni 1940 gescheitert ist. Wie sähe Europa heute aus, wenn es zu dieser Union der beiden Staaten tatsächlich gekommen wäre. Zumindest ein „Brexit“ wäre undenkbar. Überhaupt beherrschte das Thema „Brexit“, wie nicht anders zu erwarten, die spätere Diskussion mit den 35 anwesenden Zuhörern. Dabei erinnerte der Autor noch einmal an die Anfänge dieses Europas, insbesondere die Verhandlungen, die basierend auf dem Schuman-Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im April 1951 geführt haben. Mit dem eigentlichen Ziel des europäischen Projektes, wie es in der Schuman-Erklärung definiert ist, der Schaffung einer europäischen Föderation, hat sich das Vereinigte Königreich nie anfreunden können. Im Gegenteil, so Stefan Alexander Entel, habe man seit dem Beitritt 1973 immer wieder alles torpediert, was in Richtung mehr Integration gegangen wäre oder man hat sich Zugeständnisse gegen Gewährung von Sonderregelungen abringen lassen. Ob es jedoch am Ende wirklich zum Brexit kommt, hält Entel noch nicht für ausgemacht, auch wenn alle Anzeichen aktuell dafür sprechen mögen. Wenn es denn zu einem Exit vom Brexit käme, so vertat er die Ansicht, müsse die Mitgliedschaft Großbritanniens neu verhandelt werden. Es müsse für die Zukunft ausgeschlossen sein, dass sich einzelne Mitgliedstaaten im Sinne einer „Rosinenpickerei“ individuelle Sonderrechte erpressen könnten. Europa basiere auf dem Prinzip der Gleichheit aller Beteiligten, seien es Staaten oder Bürger, betonte Entel unter Bezug auf die Vision der „Väter Europas“.
Diese „Gleichheit“ in Verbindung mit „Freiheit“ und „Brüderlichkeit“ im Sinne von „Solidarität“, sind für ihn die Grundprinzipien, auf denen die Europäische Union beruht. Deshalb, so betont der Autor in seinem Buch und auch in der Diskussion am 28. Februar, sei es zu beklagen, dass viel zu wenig die gesellschaftspolitische Dimension des europäischen Einigungswerkes in das Bewusstsein der Bürger gelangt ist. Die Europäische Union als Rechtgemeinschaft hat über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus 28 Staaten zu einer Gemeinschaft gleichberechtigter Unionsbürger vereinigt. Das ist für ihn das wahrhaft Revolutionäre des europäischen Einigungswerkes. Aus dieser Gleichheit im Recht begründe sich die Freiheit, die für die Unionsbürger innerhalb des, wie er es nannte, Gemeinwesens EU zum Alltag geworden ist. Er selbst liefere ein Beispiel für diese Freiheit, weil er als deutscher Staatsbürger in Belgien lebe und in Luxemburg arbeite. In diesem Zusammenhang sei es, so Entel, barer Unsinn und vor allem irreführend, von einem „EU-Ausländer“ zu sprechen, wenn jemand nicht die Staatsbürgerschaft des Landes besitzt, in dem er lebt oder sich gerade aufhält. Es gibt keine „EU-Ausländer, es gibt nur Unionsbürger. Genauso wenig gibt es nach seiner Auffassung ein „EU-Ausland“.
Die Europäische Union ist mehr als ein Binnenmarkt, mehr als ein reines Wirtschaftsprojekt, hob er in diesem Zusammenhang deutlich hervor. Für ihn habe sich die Vision Schuman, Adenauers und vor allem Monnets in einem entscheidenden Punkt zumindest schon in groben Zügen erfüllt: Die Europäische Union ist, so Entel, in ihrer Grundkonzeption bereits ein föderativ strukturiertes Gemeinwesen mit drei politischen Gestaltungsebenen, der Unionsebene, der staatlichen Ebene und der regionalen Ebene. Um dies zu verstehen, habe er im zweiten Teil seines Buches versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen der Schuman-Erklärung von 1950 und der EU von heute, indem aufgezeigt wird, wo und wie sich die Vorstellungen der „Väter Europas“ in dem Gemeinwesen Europäische Union manifestiert haben. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten sich deshalb, so sein Petitum, dieser Ursprünge, des geistigen Fundamentes des europäischen Projektes, erinnern und sich als Teil eines Ganzen verstehen. Der Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell menschlichen Zusammenlebens hat sich nach seiner Auffassung in Europa überlebt.
In seinem Buch liefert er dazu eine umfassende Begründung, die sich insbesondere mit dem Prinzip der Aus-und Abgrenzung auseinandersetzt, das dem Nationalstaat zu Grunde liegt.
Das, was man in der Vergangenheit und auch heute als Krise Europas apostrophiert, sei, so ist Entel überzeugt, in vielen Fällen einer Krise des Denkens geschuldet. Vor allem herrsche derzeit zu wenig europäischer Geist in den Köpfen vieler politischen Protagonisten vor.
„Europa braucht eine neue Idee von sich selbst“, schreibt Entel am Ende in seinem Buch. Die neue Idee, der es bedürfe, sei aber letztendlich nichts anderes als eine Rückbesinnung auf die Ziele und Motive der Anfangsjahre und damit eine Wiederbelebung dessen, was man die Idee Europa nennt: Die Einheit der Völker Europas in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Was, so Robert Schuman am 9. Mai 1950, nur durch die Schaffung einer europäischen Föderation möglich wird.
Die Zukunft Europas ist, so lautete das Fazit des geladenen Autors nach einer am Ende lebhaften Diskussion, deshalb föderal und regional. Regional, weil, davon zeigte er sich überzeugt, die Regionen auch in zentralistisch strukturierten Staaten immer mehr an Autonomie gewinnen und damit langfristig im Gemeinwesen Europäische Union zu einem maßgeblichen politischen Player werden.
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Zum Autor:
Stefan Alexander Entel (geboren 1957) hat sich als Rechtsanwalt und Mitbegründer eines europäischen Anwaltsnetzwerkes über zwanzig Jahre mit europarechtlichen Fragen befasst. Heute versteht er sich als „Anwalt der Idee Europa“. Sein demnächst erscheinendes Werk in der Reihe „Europa neu erzählt“, bei MEDIA FOR EUROPE, trägt den Titel „Von Eupen nach Europa – ein Plädoyer für eine föderale und regionale EU“ und ist ein Gemeinschaftswerk mit dem Präsidenten des Ausschusses der Regionen der EU, Karl-Heinz Lambertz.