Europa ist (nur)ein anderes Wort für Krise (?)
Ist „Europa“ nur ein anderes Wort für Krise? Zumindest drängt sich dieser Eindruck auf angesichts der unzähligen Publikationen und Fernsehsendungen, die Europa im dauernden Krisenmodus verorten. Zugegeben: Gradlinig und störungsfrei ist die europäische Integration seit ihrem Auftakt am 9. Mai 1950 nie verlaufen. Im Gegenteil, der Prozess war – angefangen vom Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 – stets auch gekennzeichnet durch unterschiedlichste Krisenszenarien, oder zumindest Umstände, die von den politischen Protagonisten als solche bezeichnet wurden. Bei genauerem Hinsehen können viele dieser Krisen als „Krisen des Denkens“ entlarvt werden. „Krisen des Denkens“, die sich in fehlendem europäischen Bewusstsein und Verständnis, in mangelnden politischen Handlungswillen ausdrücken. Es sind durchweg hausgemachte Krisen. Hinzu kommt, dass politische Meinungsverschiedenheiten, die auf staatlicher Ebene als Ausdruck lebendiger Demokratie begrüßt werden, auf Unionsebene von den Medien gleich zu einer ernsthaften Krise hochstilisiert werden. Und dabei mutet es geradezu absurd an, wenn dies dann in schöner Regelmäßigkeit mit der Sinnfrage verknüpft wird.
Diese Absurdität beweist sich, wenn man das Heute mit den Visionen der „Väter Europas“ vergleicht.
Für Monnet und Schuman sollte die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ein erster Schritt hin zu einer europäischen Föderation sein. Die EU des Jahres 2019 ist ein föderativ strukturiertes politisches Gemeinwesen.
Für Adenauer sollte Europa zu einem „Haus der Freiheit“ werden. Heute, 70 Jahre später, leben 450 Millionen Menschen in der EU als gleichberechtigte Unionsbürger in Frieden und Freiheit zusammen.
Apropos Frieden. Das wesentliche Motiv des Schuman-Planes war die Aussöhnung zwischen den Erbfeinden Frankreich und Deutschland und die Schaffung einer nachhaltigen Friedensordnung in Europa. Die EU ist eine Friedensgemeinschaft. Hierfür wurde ihr 2012 der Friedensnobelpreis zuerkannt.
Die EU ist dank ihres Binnenmarktes heute (noch) die maßgebliche Wirtschaftmacht der Welt. Auch hierfür wurde am 9. Mai 1950 der Grundstein gelegt.
„Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker Osteuropas in diese Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie von den Zwängen, unter denen sie leiden, befreit um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden….“, heißt es in der „Geburtsurkunde Europas“, der Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman am 9. Mai 1950. Im Sommer 2009, also vor genau 10 Jahren, haben die Mitglieder des Europäischen Parlamentes erstmals mit Jerzey Buzek einen Polen zu ihrem Präsidenten wählen können. In seiner Antrittsrede konnte er ausrufen: „Es gibt kein „Ihr“ und kein „Wir“ mehr. Die Völker Europas sind vereint!“
Das sind nur einige wenige Beispiele für die trotz aller Krisen erfolgreiche Geschichte der europäischen Integration während der vergangenen 70 Jahre. Und bitte, was sind schon 70 Jahre im Kontext der über 2.000 Jahre währenden Geschichte Europas? Doch wohl nicht mehr als ein Stoßseufzer der Ewigkeit. So hat sich bewahrheitet, was Jean Monnet in den 1970er Jahren prophezeite: „Die Union ist wie ein Baum, der als Keimling in der Konferenz von Messina (Vorbereitung der EWG) gesetzt wurde. Die Wurzeln der Union sind jetzt stark, sie reichen tief in die Erde Europas. Sie haben schlechte Jahreszeiten überlebt, sie können noch weitere ertragen.“
Dass die Wurzeln dieser Union stark sind, stärker zumindest als viele glauben machen oder sich wünschen, belegt nicht zuletzt der Brexit. Hatten nicht wenige gehofft, der Brexit würde auf direktem Wege zu einer Spaltung der EU, letztendlich zu deren Auflösung führen, so sehen wir, dass es allein die britische Gesellschaft ist, die sich spaltet.
Und dennoch scheint aktuell „der Baum“ vom Holzwurm befallen und einem Zersetzungsprozess ausgesetzt zu sein. Aber das hat keine natürlichen Ursachen. Es ist vielmehr die logische Konsequenz daraus, dass seit einigen Jahren „Europa“ nur noch so buchstabiert wird:
„E“ wie Egoismus. Gemeint ist der nationale Egoismus (verpackt unter dem Label „nationales Interesse“), den nahezu alle Mitgliedstaaten, bzw. deren Regierungen bei der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung an den Tag legen. Daraus folgt „U“ wie Unfähigkeit. Die Unfähigkeit, aus der Geschichte Europas die richtigen Lehren zu ziehen und im Sinne des Interesses aller Unionsbürger die zielführenden Entscheidungen zu treffen. Was nicht zuletzt einer weitverbreiteten „R“ wie Ratlosigkeit geschuldet ist, die gepaart ist mit „O“ wie Orientierungslosigkeit. Man ist sich nicht mehr einig, wohin die Reise gehen soll, man hat das Leitbild aus den Augen verloren. Das Leitbild, das in den Präambeln aller europäischen Verträge genannt wird, die „immer engere Union der Völker Europas“. Wer sich nicht mehr über das Ziel einer Reise einig ist, wird sich auch nicht über den Weg verständigen können. Im Ergebnis bedeutet das „P“ wie Politikversagen. Europa wird nur noch verwaltet, nicht mehr gestaltet. Und dieses Politikversagen führt in letzter Konsequenz zu „A“ wie Agonie.
Europa leidet nicht an einem Mangel an Ideen und Fähigkeiten. Es leidet an einem Mangel an politischem Willen und politischer Führungskraft. Europa hat immer seine Krisen bewältigt, wenn europäische Politiker mit Mut und Visionen Führungskraft bewiesen haben. In Europa fehlt es heute an Politikern, die gleichzeitig weit zurückdenken in die Vergangenheit und weit vorausschauen in die Zukunft. Politiker also, die –frei nach Arthur Schopenhauer- nicht die Grenzen ihres Gesichtsfeldes als Grenzen der Welt ausmachen. Deshalb braucht Europa eine neue Führung, eine „geistige Führung“.
Führung ist nicht gleichzusetzen mit „Führer“. Davon hat Europa in seiner wechselvollen Geschichte zum Leidwesen der Völker schon genug gehabt. Die EU braucht schon allein deshalb keinen exponierten Führer, sondern Führung, weil sie nicht nur über ein Machtzentrum (Brüssel) verfügt. Die Macht, die politische Gestaltungsmacht in der EU ist verteilt auf eine Vielzahl an Machtzentren, die Institutionen in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, die Regierungsstellen der Mitgliedstaaten bis hinunter zu den Regionen. Korrespondierend mit der Gestaltungsmacht ruht auch die Verantwortung für das Gemeinwesen EU auf vielen Schultern.
Diese gemeinsame Verantwortung wird nirgendwo deutlicher als in der wechselseitigen Solidarität, zu der sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben. Das Solidaritätsprinzip ist ein Element unseres europäischen Wertkanons und eine tragende Säule des europäischen Lebens- und Gesellschaftsmodells. Die Solidaritätspflicht der Mitgliedstaaten untereinander zieht sich als roter Faden durch die EU-Verträge. Sie erfasst als allgemeines Rechtsprinzip bzw. als Leitwert der Union praktisch alle Politikbereiche. Freiheit, Gleichheit, Solidarität bilden das geistige Fundament des Hauses Europa. Die Rechtsgemeinschaft hat Europa zu einem Raum der Freiheit und Gleichheit für die Bürger gemacht. Substanz gewinnt aber das Gemeinwesen EU erst durch das solidarische Miteinander. „Europa lässt sich nicht auf einen Schlag herstellen, sondern entsteht aus der Solidarität der Tat“, heißt es in der Erklärung vom 9. Mai 1950. Was aber bedeutet „Solidarität der Tat“? Was ist der eigentliche Markenkern der EU als Solidargemeinschaft?
Wenn es in Europa darum geht, Menschen zu vereinen, eine Union der Bürger zu schaffen, wie es die Vision der „Väter Europas“ war und wie es in den Präambeln aller Verträge als Leitbild verankert ist, dann kann Dreh- und Angelpunkt europäischer, also gemeinschaftlicher Politik nur das gemeinsame Interesse der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sein. Dieses gemeinsame Interesse gilt es zu erkennen und in das Zentrum politischen Handelns und Denkens zu stellen. Das „gemeinschaftliche Interesse“ ist mit Jean Monnet zum Inbegriff des europäischen Einigungswerkes geworden. Was aber ist das „gemeinsame Interesse“ der Europäer und wie lässt es sich bestimmen?
Als wenig zielführend erweist es sich, dafür allein auf die vermeintliche Schnittmenge der „nationalen Interessen“ abzustellen. Ein solcher Ansatz redet einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners das Wort, einem Phänomen, dem man leider nur allzu häufig begegnet. Apropos „nationale Interessen“ . Mit Verlaub: Worin unterscheiden sich die Interessen der Unionsbürger aus Frankreich von denen aus Belgien, Deutschland ….? Wenn im europäischen Kontext (und nicht nur hier) von „nationalen Interessen“ die Rede ist, um deren Durchsetzung sich die politischen Granden auf europäischer Ebene nach eigenem Bekunden so intensiv verdient machen, dann erweisen diese sich bei genauem Hinsehen sehr rasch als Partikularinteressen einzelner heimischer Wirtschaftsunternehmen. Es ist also durchaus Misstrauen angesagt, wenn Politiker ihr Handeln mit dem „nationalen Interesse“ begründen.
Das Projekt „Europa“ zwingt uns jedoch in jeglicher Hinsicht zu einer neuen Sichtweise, zu einem, wie es Walter Hallstein (1. Präsident der Kommission) einmal genannt hat, Bruch mit tiefeingewurzelten Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns. Europa lässt sich nicht aus einem nationalen Blickwinkel betrachten und begreifen, sondern nur als eine gemeinschaftliche Aufgabe. Und diese Aufgabe ist die Schaffung einer Union der Bürger. Was aber ist das gemeinsame Interesse der Unionsbürgerinnen und –bürger? Doch wohl nichts anderes als Frieden Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Daran hat sich seit Beginn des europäischen Einigungswerkes nichts geändert. Für die „Väter Europas“ gab es aufgrund der Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt keinen Zweifel, dass Wohlstand und soziale Gerechtigkeit für die Entwicklung und den Bestand der Demokratie und den Zusammenhalt einer Gesellschaft, letztendlich für den Frieden in Europa, unabdingbare Voraussetzungen sind. Das gilt heute genauso wie vor 70 Jahren.
Die Förderung des Wohlstandes und der sozialen Gerechtigkeit bilden die Legitimationsgrundlage der EU. Deshalb ist es Aufgabe der Politik, für die 500 Millionen UnionsbürgerInnen gleichsam diejenigen Rahmenbedingungen herzustellen und zu sichern, die es ihnen möglich machen, in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben und überhaupt ein moralisches Dasein zu führen.
Wenn das für die Unionsbürger erkennbar und spürbar wird, wenn man nicht mehr nur den Eindruck haben muss, dass die Priorität der politischen Führung dem Interesse von Banken und Wirtschaftsunternehmen gilt, dann werden sich die Menschen mit diesem Gemeinwesen EU identifizieren.
Aber es braucht noch mehr, um Europa aus der mentalen Depression herauszuholen. Europa braucht eine neue Idee von sich selbst.
Es ist hohe Zeit, dass sich die Europäer darüber im Klaren werden, in welcher Union sie in Zukunft leben wollen, was die EU sein will und sein soll. Eine solche Debatte beantwortet letztendlich auch die Frage, wer zu dieser „immer engeren Union der Völker Europas“ gehören will und wer nur spezielle Beziehungen zu ihr unterhalten will. Es ist geradezu eine ideologische Debatte, die hier geführt werden muss. Eine Debatte darüber, ob wir Europa als politisches Gemeinwesen weiter in Richtung einer Föderation mit einer stärkeren Einbindung der Regionen als Politikebene entwickeln wollen, oder ob wir in der Ideologie des Nationalstaates Europa in das 19. Jahrhundert zurückbeamen. Und dabei gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass die EU keineswegs nur ein gemeinsamer Markt und das Ergebnis eines wohlmeinenden pro-europäischen Idealismus ist, sondern das Ergebnis brutaler historischer Prozesse auf dem europäischen Kontinent.
In der Verantwortung um das europäische Einigungswerk und zukünftige Generationen ist diese Debatte direkt nach der Europawahl zu beginnen. Europa ist mit einer neuen Idee zu verbinden, weil eine Gesellschaft ohne Visionen eine Generation ohne Perspektiven hinterlässt! Europa ist keine naturgesetzliche Selbstverständlichkeit. Die Gefahr ist groß, dass uns das europäische Projekt aus den Händen gleitet. Dazu braucht es auch die Erkenntnis: Die Unionsbürgerschaft ist nicht nur ein individuelles Privileg, sie bedeutet nicht minder die kollektive Verpflichtung dafür einzutreten, dass Europa für die nachfolgenden Generationen ein Ort des Friedens und der Freiheit bleibt.
Am Ende muss es darum gehen, dass die Menschen mit Europa „E“ wie Einheit „U“ wie Unabhängigkeit, „R“ wie Rechtsstaatlichkeit, „O“ wie Offenheit „P“ wie Partnerschaft (nach innen und außen) und „A“ wie Aufbruch verbinden.