Europa ist mehr als ein Binnenmarkt

Mit der Europäischen Union ist erstmals in der Geschichte der erfolgreiche Versuch unternommen worden, die geistig-kulturelle Einheit Europas in eine definitive politische Ordnung zu überführen  und damit die „Idee Europa“ umzusetzen. Quasi als Beleg dafür bietet sich die Präambel der Charta der Grundrechte der EU an:

„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedvolle Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistigen, religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet….“

Die Europäische Union als politisches Ordnungsmodell legitimiert sich aus dem gemeinsamen Wertekanon der Europäer. Sie gründet auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Mitglied der EU  kann nur der europäische Staat werden, der diese Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt. Bei einem Verstoß gegen diese Grundwerte sieht der EU-Vertrag die Möglichkeit einer Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte des betreffenden Mitgliedstaates vor. Um eben diese Frage geht es in der augenblicklichen Auseinandersetzung mit Ungarn und Polen. „In Europa geht es nicht nur um materielle Dinge, sondern auch um Geistiges“ (Jacques Delors).

Auch wenn die Charta der Grundrechte erst seit 2007  verbindlicher Bestandteil des europäischen Vertragswerkes ist, war Europa, war die europäische Integration von Beginn an ein politisches Projekt verbunden mit der „Idee Europa“.

Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege bestand für die „Väter Europas“ die Herausforderung, ein politisches System zu entwickeln, das den unheilvollen Konkurrenzkampf der Staaten und Nationen um Macht und Vormacht ersetzt. Jean Monnet war davon überzeugt: „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn die Staaten auf der Basis nationaler Souveränität wiederhergestellt werden, mit all dem, was die Politik des Machtstrebens und wirtschaftliche Protektion mit sich bringt.“ In der Tat, als nachhaltige Friedensordnung hatte sich das Europa der Nationalstaaten nicht bewährt. Und zugleich waren (und sind) die Länder Europas zu klein, um den  Bürgern Wohlstand zu sichern.  Monnet war zutiefst davon überzeugt, dass dieses neue Europa vor allem eine „Union der Bürger“ sein muss,  in der die politischen (Frieden und Freiheit) und die wirtschaftlichen (Wohlstand) Bedürfnisse, die Interessen und Ziele der Europäer verbunden werden. Deshalb, so war sein Credo, gelte es in Europa, nicht Staaten zu koalieren sondern Menschen zu vereinigen. Die „Union der Bürger“ wurde in der Formulierung „Union der Völker Europas“ zum Leitbild der europäischen Integration und findet sich in den Präambeln aller europäischen Verträge.

Für alles das konnte es für Jean Monnet, Robert Schuman und Konrad Adenauer nur einen Weg geben: Die Staaten Europas müssen sich zu einer Föderation zusammenschließen.

Schon im antiken Griechenland kannte man das gesellschaftliche und politische Ordnungsprinzip des Föderalismus. Sein Wesenskern ist: Gleichberechtigte Einheiten schließen sich bei Wahrung ihrer Integrität auf der Grundlage einer Vereinbarung (Verfassung) zu einem größeren Ganzen zusammen, um so gemeinsame Interessen zu verfolgen. Die beiden Eckpfeiler sind die Selbstbestimmung der Glieder und ihre Mitverantwortung für die Ordnung des Ganzen. Der Nutzen des Föderalismus liegt darin, dass er der Bündelung von Kräften oder der Beilegung von Konflikten dient. „Wenn das Föderativsystem eingeführt ist, gibt es keine Kriege mehr zwischen den Völkern“ (Thomas Massaryk, tschechischer Philosoph).

Den Weg zu einer solchen europäischen Föderation hat Jean Monnet bereits 1944 in einem Beitrag für eine amerikanische Zeitschrift skizziert: Die europäischen Nationen übertragen Teile ihrer Souveränität auf eine Art zentrale Union, eine Union, die die Macht hat, einen großen europäischen Markt zu schaffen und das Wiederaufleben des Nationalismus zu verhindern. Und eben diesen Weg haben die Europäer  seit 1950 beschritten.

Was auf der Grundlage des „Schuman-Planes“  mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 begonnen hat, über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 ausgeweitet und danach über mehrere Etappen und Verträge bis hin zur heutige EU weiterentwickelt worden ist, ist die sukzessive „Fusion“ von Teilen nationaler Souveränität durch die Mitgliedstaaten im Wege der Schaffung einer überstaatlichen Politikebene. Damit verbunden ist die Übertragung ursprünglich staatlicher Aufgaben und Zuständigkeiten auf die für diese Ebene gemeinsam geschaffenen Institutionen, bzw. die Aufteilung solcher Aufgaben zwischen der überstaatlichen und der staatlichen Ebene. Man spricht von einer „geteilte Souveränität“. „Die Mitgliedstaaten übertragen der Union die Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer Ziele“, heißt es entsprechend in dem EU-Vertrag. Diese Ziele sind einerseits Handlungsaufträge der EU-Institutionen im Rahmen der ihnen übertragenen Zuständigkeiten und sie bestimmen andererseits Maß und Ziel der Tätigkeit der Institutionen. So ist im Laufe der Jahrzehnte eine völlig neue politische Ordnung entstanden, in der der Nationalstaat zu einem Teil eines größeren politischen Gemeinwesens (EU) geworden ist, ohne darin gänzlich aufzugehen. Damit verfügt die Europäische Union  über drei Ebenen der Politikgestaltung- die  Unionsebene, die staatliche Ebene und die regionale Ebene. („regionale Ebene“ ist hier Sammelbegriff für regionale und kommunale Gebietskörperschaften). Diese drei Ebenen sind eng miteinander verzahnt und vernetzt und machen die EU –wie es im einschlägigen Jargon heißt- zu einem „multi-level-governance-system“. Ausdruck des Regierens ist die politische Gestaltung eines Gemeinwesens durch Gesetze. Die politische Gestaltung durch Gesetzgebung findet in der EU auf Unionsebene, auf staatlicher Ebene und, je nach verfassungsrechtlicher Struktur des einzelnen  Mitgliedstaates auf „regionaler“ Ebene statt.

Die EU  ist also keine internationale Organisation mit Sitz in Brüssel.  „Brüssel“ ist vielmehr das politische Zentrum eines föderativen Gemeinwesens, das sich aus 28 Ländern, über 300 Regionen, vor allem aber 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt. Sie alle verbindet eine Rechtsgemeinschaft.

Diese Rechtsgemeinschaft spiegelt sich wider im  europäischen Binnenmarkt. Er ist integraler Bestandteil des politischen Gemeinwesens EU. Sein Entstehen hat die Übertragung von staatlichen Zuständigkeiten auf gemeinsame überstaatliche Institutionen überhaupt erst möglich gemacht. Es ist häufig von der wirtschaftlichen Integration Europas die Rede, der die politische nachfolgen soll. Diese These ist zumindest irreführend. Integriert, also zusammengefasst, worden ist nicht die „Wirtschaft“, nicht Handel, nicht Produktion, nicht das Handeln der Unternehmer oder Verbraucher. Integriert worden ist für das Entstehen des europäischen Binnenmarktes der Anteil der Staaten an der Setzung der rechtlichen Bedingungen wirtschaftlichen Handelns innerhalb des Binnenmarktes. Das, was den europäischen Binnenmarkt von einer Freihandelszone unterscheidet, ist die einheitliche Rechtsordnung. Diese schafft die Rahmenbedingungen, unter denen innerhalb der EU der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern möglich und zulässig sind. Der EU- Binnenmarkt bedeutet im Prinzip nichts anderes als die rechtliche Verschmelzung von 28 nationalen Binnenmärkten zu einer Einheit.

Apropos „Binnenmarkt“:  Das Alter Ego des Binnenmarktes ist Binnenhandel.  Es ist also völlig unsachgemäß, wenn im Zusammenhang mit dem europäischen Binnenmarkt von „Import und Export“ zwischen den Mitgliedstaaten die Rede ist.  Import und Export stehen für Außenhandel! Der Handel zwischen Paris und Mailand, zwischen Riga und Dublin, ist jedoch nicht anders zu beurteilen und sprachlich zu erfassen als der Handel zwischen Brüssel und Antwerpen oder München und Köln.  Bei all diesen Beispielen handelt es sich um eine Erscheinungsform des Binnenhandels, europäisch oder national. Und genauso  wenig wie es Import und Export im europäischen Binnenmarkt gibt, kann es Außenhandelsüberschüsse im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander geben. Die Mitgliedstaaten der EU sind im Verhältnis zueinander nicht ausländische (souveräne) Staaten, sondern in ihrer Gesamtheit Teile einer Union. Die EU ist Inland. Dafür sorgt die Rechtsgemeinschaft.