Europa ist Gestaltungskraft

Wollte man Sinn und Zweck der europäischen Integration  philosophisch umschreiben, so bietet sich diese Formel an:  Europa bedeutet den Verzicht der Nation auf das Ausschließliche zugunsten des Gemeinschaftlichen in dem Bewusstsein, dass die Gemeinschaft Energien und Gestaltungskraft erzeugen kann, die die Nation alleine nicht erzeugt. Schon der Dichterfürst Friedrich Schiller wusste: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig!“

Mächtig sind die europäischen Nationen und ihre Staaten schon lange nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Selbst die größten unter ihnen, Deutschland und Frankreich, sind -global gesehen- machtpolitisch und ökonomisch auf das Maß von regionalen Mittelmächten geschrumpft. Europa gibt schon lange nicht mehr in der Welt den Ton an. Das  Zentrum der neuen Weltordnung liegt in Asien und im Pazifik. Es ist dem Fehlen einer wirksamen gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik geschuldet, dass Europa bei der Gestaltung der neuen Weltordnung nur die Rolle eines Zuschauers einnimmt. Es gibt keine europäische Weltkarte. Europa schaut nicht nach außen, sondern vor allem auf sich selbst.

Aber auch der Blick nach innen verheißt in puncto politische Gestaltungsmacht der einzelnen europäischen Staaten nichts Gutes. Die Realität straft diejenigen Lügen, die uns gerade jetzt wieder das Märchen vom souveränen Nationalstaat als Antwort auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aufzutischen versuchen.  „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn die Staaten auf der Basis nationaler Souveränität wiederhergestellt werden, mit all dem, was eine Politik des Machtstrebens und wirtschaftliche Protektion mit sich bringt…    Die Völker müssen lernen, gemeinsam nach Regeln und unter frei verfassten Institutionen zu leben, weil die souveränen Nationen der Vergangenheit nicht mehr der Rahmen sind, in denen sich die Probleme der Gegenwart und Zukunft lösen lassen“, schreibt Jean Monnet 1944, also zu einer Zeit, als in Europa noch der Krieg tobt, in einem Beitrag für eine amerikanische Zeitschrift. Insbesondere der letzte Punkt gilt heute, 75 Jahre später, mehr denn je.

Das Konzept der staatlichen Souveränität, also das Recht eines Staates zur Selbstbestimmung über die inneren und äußeren Angelegenheiten, findet seinen Ursprung im „Westfälischen Frieden“ des Jahres 1648. Mit diesem Friedensvertrag,  der den  30- jährige Krieg beendet, wird erstmals das Gebot der Nichteinmischung externer Akteure in die inneren Angelegenheiten eines Staates als  Leitprinzip für internationale Beziehungen festgeschrieben. Die daraus folgende Konsequenz war die gänzliche räumliche und soziale Trennung der Staaten voneinander, womit die Grenze zum Wesensmerkmal eines Staates geworden ist. Das in einem früheren Beitrag bereits erörterte Prinzip der Aus- und Abgrenzung ist Ausdruck des Dogmas staatlicher Souveränität.

Anders als vor 400 Jahren sind es heute weniger politische Akteure, also andere Staaten, die auf die inneren Verhältnisse  der europäischen Staaten  Einfluss nehmen.  Diese Rolle haben  vielmehr die global agierenden und vernetzten Finanzspekulanten und Wirtschaftsunternehmen übernommen und das sehr wirkungsvoll. Durch ihre globale ökonomische Macht sind die einzelnen Staaten erpressbar geworden. Damit hat sich deren politische Gestaltungsmacht  geradezu marginalisiert.  Die Ohnmacht der Politik gegenüber der Wirtschaft äußert sich meist in dem Argument, die sog. Sachzwänge ließen die eine oder andere politische Maßnahme nicht zu.

Mit Verlaub: Sich eines „Sachzwanges“ zu beugen, bedeutet, sich auf unwürdige Art seiner Freiheit zu begeben, selbst zu entscheiden und die Sachen zu verändern. Die Globalisierung und die sich daraus für die Europäer ergebenden vermeintlichen Sachzwänge sind kein Naturgesetz. Sie sind das Ergebnis von politischen Entscheidungen oder Nichtentscheidungen.  Auch wenn die Globalisierung kein Naturgesetz ist, sie ist in jedem Falle ein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Faktum.  Und in dieser Globalisierung geht es für die Europäer nicht nur um Arbeitsplätze,  sondern mehr noch um die Verteidigung ihres Lebens-und Gesellschaftsmodell. Wer glaubt, er könne dieses Lebens-und Gesellschaftsmodell in den stürmischen Zeiten der Globalisierung bewahren, er könne seinen Bürgerinnen und Bürgern Frieden, Freiheit und vor allem Wohlstand sichern, indem er die Zugbrücke hochzieht, die Grenzen dicht macht und den souveränen Nationalstaat zum politischen Maß aller Dinge mit Ewigkeitsgarantie erhebt, der leidet an grenzenlosem Realitätsverlust. Den globalen Herausforderungen mit einer Abschottung in nationalen Grenzen zu begegnen, ist nichts anderes als der Versuch, Feuer mit Benzin zu löschen oder historischen Selbstmord zu begehen. Es wird sich als traurige Wahrheit erweisen: Die Brexit-Kampagne der Herren Johnson und Farage war letzten Endes nichts anderes als das Verleiten einer ganzen Nation zum kollektiven  politischen und ökonomischen Suizid.

Europa, die Europäische Union gehört wegen ihres Binnenmarktes zu den wohlhabendsten Regionen der Gegenwart. Sie verfügt über hervorragende Bildungs-und Forschungseinrichtungen. Europas wichtigster Rohstoff sind Kreativität, zukunftsfähige Intelligenz, Erfindergeist und Innovationsfähigkeit. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass die Mehrheit der heute den Erdball bevölkernden Menschen es vorziehen würde, in Europa zu leben. Und dennoch stellt sich die Frage, warum Europa so schwach wirkt. Was den Europäern auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert im Weg steht, ist das Festhalten an der längst überholten Organisationsform des Nationalstaates.  Es ist eine Mär, dass der Nationalstaat die einzige gültige Verwirklichung politischer Einheit sein soll. Europa hat im Verlauf seiner Geschichte viele Varianten der Organisation menschlichen Zusammenlebens erlebt. Die meisten haben sich im Verlauf der Geschichte von selbst aufgelöst, weil sie den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr gerecht geworden sind. Auch der Nationalstaat ist als politisches Ordnungssystem nicht vor notwendigen Veränderungen gefeit.

Wohlgemerkt: Es geht hier nur um das politische Ordnungssystem „Staat“, nicht um die Nation. Wenn Nationalisten und Rechtspopulisten argumentieren, mit der europäischen Integration sei die Zerstörung der Nationen gewollt, so haben sie schlichtweg nichts verstanden oder wollen es nicht. Jean Monnet hilft auch hier weiter: In Europa geht es nicht darum, Staaten zu koalieren, sondern Menschen zu vereinigen! Was aber nicht heißt, dass Europa zu einem Schmelztiegel der Nationen werden soll und muss. Im Gegenteil, es ist die Vielfalt der unter dem gemeinsamen Dach der EU zusammenlebenden Nationen, die den Charme ausmacht.  Dazu passt, was Charles de Montesquieu schon vor  über 200 Jahren festgestellt hat: „Europa ist nichts anderes als eine große, aus mehreren kleinen zusammengesetzte Nation!“

Europa bedeutet Gestaltungskraft durch Eingebundensein, denn nur verbunden werden die Schwachen mächtig“. Allein die Zusammenführung von Souveränitäten innerhalb des Gemeinwesens Europäische Union, also der Verzicht des Staates auf das Ausschließliche zugunsten des Gemeinschaftlichen, schafft die Gestaltungskraft, die es braucht, um auch zukünftigen Generationen das europäische Lebens-und Gesellschaftsmodell zu erhalten. Und dies ist eine Wechselbeziehung. So bedeutet für Jacques Delors  die Schaffung Europas, die Möglichkeit, einen Freiraum zu gewinnen, der für eine bestimmte Idee von Frankreich unabdingbar ist. So widersinnig es auf den ersten Blick auch erscheinen mag, durch die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Souveränität behält und erhält jede Nation den Gestaltungsspielraum, um die eigenen Ideale zu leben. Der europäische Integrationsprozess ist eine Medaille mit zwei Seiten: Auf der einen Seite bedeutet er die Transformation (Umwandlung) des Nationalstaates, indem er – zumindest theoretisch – Souveränität verliert, auf der anderen Seite bedeutet er die Schaffung einer gemeinsamen neuen Ebene  der gemeinsamen Politikgestaltung und damit Gestaltungsmacht. Das, was in unserem Verständnis einen Staat als Ordnungsfaktor menschlichen Zusammenlebens legitimiert, ist vor allem die Rechtsordnung und die Gleichheit vor dem Recht. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft dank einer eigenen, alle Mitgliedstaaten umfassenden und alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigenden Rechtsordnung. Unter diesem Gesichtspunkt ist die EU als politischer Ordnungsfaktor menschlichen Zusammenlebens dem Staat ebenbürtig.

Gestaltungsmacht bedingt Gestaltungswillen – gemeinschaftliche Gestaltungsmacht gemeinschaftlichen Gestaltungswillen.

Das politische Gemeinwesen EU verfügt über drei Ebenen der Politikgestaltung,  Unionsebene, staatliche Ebene und regionale Ebene. Die enge Vernetzung und Verzahnung dieser drei Ebenen schafft die Voraussetzungen für „Gestaltungskraft durch Eingebundensein“ mit der Konsequenz, dass alle Beteiligten, gleichgültig auf welcher Ebene sie politische Verantwortung tragen, in der Gesamtverantwortung für das Ganze stehen. An diesem Bewusstsein mangelt es den politisch Verantwortlichen nicht nur zuweilen. So zeugt von wenig europäischem Geist, wenn sich nach Sitzungen des Europäischen Rates oder auch des Ministerrates die Protagonisten jeder für sich vor den Mikrofonen ihrer nationalen Medienanstalten damit brüsten, wie sehr sie oder er für die Interessen des eigenen Landes gerungen und in wie vielen Punkten sie oder er sich mit der eigenen nationalen Position durchgesetzt und „gesiegt“ hat. Die Sitzungen des Europäischen Rates und des Ministerrates sind keine „Kriegsschauplätze“, sie sind kein Fußballspiel, in dem es Sieger und Besiegte gibt. Europa hat lange genug Sieger und Besiegte gesehen. Angesichts solcher Interviews bricht sich nicht selten beim Autor der Stoßseufzer Bahn: Herr, lass europäischen Geist regnen!

Die Idee Europa ist die Idee der Gemeinschaft, gründend auf der Gleichheit aller Beteiligten. Europa kann nicht gegeneinander, sondern nur miteinander regiert und gestaltet werden.

Fazit: Wenn die Europäer nicht selbst ihre Einheit in dem Bewusstsein um die damit zu gewinnende Gestaltungsmacht nach außen und nach innen weiterentwickeln, dann werden die Entscheidungen, die ihre Zukunft betreffen, von anderen von außen gefällt werden. Europa steht nicht vor der Wahl: EU oder Nationalstaat. Europa steht vor der Wahl:  Selbstbestimmung oder  Fremdbestimmung!