Europa ist eine wechselvolle Geschichte
Europa ist längst in unserem Verständnis und Sprachgebrauch zum Synonym für die Europäische Union geworden. Wenn wir von „Europa“ sprechen, meinen wir in der Regel die Europäische Union. Und wenn wir von den „Europäern“ sprechen, meinen wir damit in der Regel die über 500 Millionen Menschen, die sich EU-Bürger („Unionsbürger“ ist der richtige Terminus!) nennen können, weil sie Angehörige eines der 28 Mitgliedstaaten der EU sind. So sehr hat sich unsere Begriffswelt, bzw. unser Begriffsverständnis in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Diese Europäische Union ist zu unserer Lebenswelt geworden und dennoch ist sie für sehr viele ihrer Bürger nach wie vor „terra incognita“.
Die Europäische Union ist das Europa, das nie zuvor in der Geschichte existiert hat und das man deshalb erst hat erschaffen müssen. Den „Bauplan“ für dieses Europa hat Jean Monnet, von dem dieser Satz stammt und der als der „Erfinder“ Europas gilt, entwickelt. Auf dieser Grundlage haben am 9. Mai 1950 der französische Außenminister Robert Schuman und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer den Grundstein für die heutige EU gelegt.
Was aber ist dieses neue Europa in Gestalt der Europäischen Union und vor allem, was bedeutet es tatsächlich für über 500 Millionen Europäer?
Bemühen wir hierzu einmal einen etwas anderen Blick auf diesen Kontinent, der seinen Namen der Legende nach einer phönizischen Prinzessin verdankt, die sich einst vom Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres hat entführen und später dann verführen lassen.
Europa ist geographisch der zweitkleinste Kontinent der Erde und dabei, weil nur ein Teil der eurasischen Erdplatte, eigentlich ein Subkontinent. Im Westen vom Atlantik und im Osten vom Ural begrenzt erstreckt sich der Kontinent über eine Gesamtfläche von 10,5 Mio. Quadratkilometer, wovon das Gebiet der EU etwa 4,4 Mio. ausmacht. Im Vergleich zu Asien mit seinen 45 Mio. Quadratkilometern ist Europa insgesamt, und die EU erst recht, ein geographischer Winzling.
Die politische Landkarte Europas war im Verlauf der Geschichte einem steten Wandel unterworfen. Mal erschien der Kontinent als ein Flickenteppich mit vielen kleinen und kleinsten „staatlichen“ Einheiten, mal prägten große Staatsgebilde das politische Landschaftsbild. Im 16.Jahrhundert gab es in Europa etwa 500 separate politische Entitäten, um 1900 beherrschten 25 Nationalstaaten den größten Teil des Kontinents. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Europäer politisch, wirtschaftlich und kulturell weltweit tonangebend. Nur 14 Jahre später verkehrt sich das alles im Kanonendonner und in den Schützengräben des I. Weltkrieges ins Gegenteil.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machen die Europäer noch etwa 20% der Weltbevölkerung aus. Zum Vergleich: Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, beträgt ihr Anteil noch 11% und zum Ende dieses Jahrhunderts werden es wohl nur noch 4% sein. Europa ist demographisch ein Schwächling!
Um 1900 waren es 25 Nationalstaaten, die sich den Kontinent teilten, aktuell sind es –je nach Zuordnung- 47 Staaten, von denen sich 28 (-1) zur Europäischen Union zusammengeschlossen haben. 47 Staaten auf einer Fläche von 10,5 Mio. Quadratkilometern, das bedeutet auf der europäischen Landkarte ein geradezu unüberschaubares Geflecht an Staatsgrenzen. Europa ist der Kontinent mit der größten Dichte an Grenzen.
Übrigens: Das Europa der Nationalstaaten ist eine Erscheinungsform, die sich weitestgehend erst im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Als politische Organisationsform sind sie keiner natürlichen oder gar göttlichen Ordnung entsprungen, sondern eine menschliche Erfindung und nicht zuletzt eine Folgeerscheinung der industriellen Revolution und der Marktwirtschaft. Bei ihrer Entstehung hat selten das Wohl der Menschen im Mittelpunkt gestanden hat. Weder in geographischer, noch in politischer Hinsicht haben sie sich in ihrer Geschichte als eine Konstante erwiesen. Allein mit dem Fall des „Eisernen Vorhanges“ sind in Europa 23 neue Nationalstaaten entstanden.
Ganz anders verhält es sich mit den Regionen. Sie prägen seit Jahrhunderten das Antlitz unseres Kontinents. Sie waren und sind das „Salz in der Suppe Europas“. Das, was eine Region ausmacht, sind ihre geographische Lage, die sich über Jahrhunderte entwickelten kulturellen Traditionen ihrer Bewohner, deren Sprache (Dialekt) und die der speziellen Lage angepassten wirtschaftlichen Tätigkeiten. In ihnen manifestiert sich das, was man gemeinhin die regionale und kulturelle Vielfalt Europas nennt. Regionen haben im Verlauf der Geschichte alle möglichen staatlichen Organisationsversuche erlebt und überlebt. Der Nationalstaat wurde quasi darübergestülpt. Auf regionale, kulturelle Traditionen, auf gewachsene soziologische Strukturen wurde dabei wenig Rücksicht genommen.
Europa ist über Jahrhunderte Schauplatz unzähliger blutiger Bruderkriege um Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, vor allem aber um Macht und Hegemonie gewesen. Die europäischen Geschichtsbücher sind voll von Erzählungen über Kriege und Schlachten. Die Kenntnis der jeweiligen Jahreszahlen gehörte zumindest in der Schulzeit des Autors zum Pflichtprogramm des Geschichtsunterrichts. „Si vis pacem, para bellum“ („willst du Frieden, bereite den Krieg vor“), mit dieser paradoxen Logik glaubten die Europäer über Jahrhunderte (und glauben es wohl immer noch), nachhaltig Frieden untereinander zu schaffen. Das Problem war nur, dass sie es im Umgang miteinander selten bei der bloßen Vorbereitung des Krieges belassen haben. Krieg galt nicht erst seit Clausewitz als ein probates Mittel zur Fortsetzung der Politik, zur Durchsetzung eigener Interessen.
Vor 100 Jahren, am 11. November 1918, ist der I. Weltkrieg zu Ende gegangen. Seine schreckliche Bilanz: Über 10 Millionen Tote und über 20 Millionen zum Teil bis zur Unkenntlichkeit entstellte Verwundete. Im zeitgenössischen Empfinden und in vielen Ländern gilt der I. Weltkrieg heute noch als der „große Krieg“, „the Great War“, „la Grand Guerre“, bzw. als „la Grande Guerra“. In Belgien und in Frankreich ist der 11. November ein Feiertag. Im Vereinigten Königreich wird dieser Tag im Gedenken an die Gefallenen als „Remembrance Day“ begangen. „Gefallen auf dem Feld der Ehre“, mit solch beschönigenden Formeln wurde den Hinterbliebenen die Nachricht vom Tod des Sohnes, des Bruders, des Vaters, des Großvaters, des Onkels, des Ehemannes, des Freundes übermittelt. In Wahrheit sind sie von Bomben und Granaten zerfetzt worden, sind im Feuer der gegnerischen Flammenwerfer verbrannt, sind in den Maschinengewehrsalven des Gegners umgekommen, sind Opfer des Einsatzes von Giftgas geworden. Sie sind im Schlamm verreckt, sie sind zwischen den Frontlinien verblutet, weil ihnen niemand zu Hilfe kommen konnte.
Der I. Weltkrieg war die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Ausgelöst haben ihn die Schüsse von Sarajewo, sprich: das tödliche Attentat des Terroristen Gavirio Princip auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau in den Straßen der bosnischen Hauptstadt Sarajewo am 28. Juni 1914. Die eigentliche Ursache lag jedoch viel tiefer. Mit der Entstehung der Nationalstaaten hat sich in Europa die Ideologie des Nationalismus breit gemacht. Nationalismus ist die Ideologie, aus der Konflikte gewirkt sind, die zumeist am Ende Krieg bedeuten. Und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt Europa eine Hochphase des Nationalismus in einer besonders extremen Ausprägung. Die Überhöhung der eigenen Nation wurde zur Legitimierung des Imperialismus, der Herrschaft über andere Völker und der Ausgrenzung, bis hin zur Vernichtung und Vertreibung ethnischer Minderheiten. So folgte nur wenige Jahre nach der Urkatastrophe die noch größere Katastrophe in Gestalt einer in der Geschichte Europas bis dato nicht gekannten Zeit der Tyrannei und der Massenmorde. Europa war zum Tatort eines ideologisch begründeten Völkermordes von unvorstellbarem Ausmaß geworden. Deutschland hatte den kollektiven Wahnsinn ausgelöst und Europa in ein Irrenhaus verwandelt, in dem ein Tobsüchtiger mit Namen Adolf Hitler das Kommando übernommen und der Zivilisation selbst den Krieg erklärt hatte.
Der II. Weltkrieg hat alles in den Schatten gestellt, was der Kontinent zuvor an Schlachten und Kriegen erlebt hat. 80 Millionen Menschen haben diesen Wahnsinn mit dem Leben bezahlt. Nein, die Europäer sind im Verlauf ihrer Geschichte nicht wirklich friedfertig miteinander umgegangen. Europa war über Jahrhunderte das Dilemma von Krieg und Frieden.
Gleichwohl prophezeit der französische Philosoph Victor Hugo schon 1849 den Europäern: „Der Tag kommen wird, an dem du Frankreich, du Russland, Italien, England, Deutschland, ihr alle, die Nationen des Kontinents, ohne eure unterschiedlichen Eigenschaften und ruhmreiche Individualität zu verlieren, euch zu einer höheren Einheit vereinigen und ihr die europäische Brüderlichkeit errichten werdet, genauso wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, Elsass, alle unsere Provinzen sich in Frankreich zusammengeschlossen haben. Der Tag wird kommen, an dem die Kugeln und Bomben durch die Abstimmung, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch das wirkliche Schiedsgericht eines großen souveränen Senats ersetzt werden, der in Europa das sein wird, was in England das Parlament, in Deutschland der Reichstag, in Frankreich die gesetzgebende Körperschaft ist.“
Er sollte Recht behalten.