Europa ist eine Rechtsgemeinschaft
„Der Euro ist nicht so sexy, dass ich mich in ihn verlieben könnte. Worin ich mich aber verlieben kann, ist, dass Europa eine Rechtsgemeinschaft ist“, so hat es Jean-Claude Juncker einmal in einem Gespräch mit dem Autor auf den Punkt gebracht. In der Tat, das, was die EU in der Welt einzigartig und für ihre Bürgerinnen und Bürger lebenswert, vielleicht sogar liebenswert macht, ist ihre Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft. Durch sie wird die EU zu einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung im Sinne der „Idee Europa“. Durch sie wird die EU zu einem gemeinsamen Haus der Freiheit für die Europäer.
Der Begriff „Rechtsgemeinschaft“ lehnt an dem Begriff „Rechtsstaat“ und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich bei der EU, wenn auch nicht um einen Staat im herkömmlichen Sinne, so doch um ein Gemeinwesen handelt, das über die Attribute eines Rechtsstaates verfügt. „Rechtsstaatlichkeit“ gehört zu den Verfassungsprinzipien der EU. „Rechtsstaatlichkeit“ in Bezug auf die EU bedeutet, dass die Institutionen nur im Rahmen der ihnen von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten und verfassungsmäßig definierten Ziele tätig werden. Dabei ist die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu gewährleisten. Zu diesen gemeinsamen Zielen zählen (innenpolitisch) vor allem:
- die Förderung des Friedens, der Werte und des Wohlergehens der Bürger
- die Entwicklung der EU zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen für die Bürgerinnen und Bürger;
- ein Binnenmarkt, dessen Eckpunkte ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, Vollbeschäftigung, ein hohes Maß an Umweltschutz und Umweltqualität sind;
- die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung und die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes;
- die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhaltes innerhalb der EU;
- die Wirtschafts-und Währungsunion.
Es ist Aufgabe der EU- Institutionen, namentlich der EU- Kommission, des Europäischen Parlamentes und des Rates der EU, sowie in beratender Funktion des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts-und Sozialausschusses, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten hierzu die erforderlichen einheitlichen „Gesetze“ zu formulieren und zu beschließen.
Mächtig, aber nicht allmächtig im institutionellen Gefüge der Unionsebene ist die EU-Kommission. Sie ist nicht, wie zuweilen kolportiert wird, die „Regierung der EU“, sondern sie ist ein unabhängiges, weisungsfreies Organ, das zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet ist. Was sie jedoch zu dem zentralen Organ im System der EU macht, ist ihr nahezu ausschließliches Initiativrecht im europäischen Rechtssetzungsverfahren. Ihr allein obliegt es, nach Maßgabe der „verfassungsmäßig“ definierten Ziele, im gemeinsamen Interesse Gesetzesvorschläge in Gestalt von Verordnungen und Richtlinien zu erarbeiten und in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Die Kommission ist der Ort, in dem Politik im gemeinsamen Interesse in Rechtsakte umgewandelt wird. Das macht sie zum „Motor der Integration“. Ob alle diese Initiativen der Kommission wirklich der Integration dienlich, bzw. angemessen sind, darüber lässt sich sicherlich in einigen Fällen streiten. Aber auch der nationale Gesetzgeber zeichnet sich nicht immer durch sinnvolle Gesetzesinitiativen aus.
Die Kommission ist zugleich „Hüterin der Verträge“, indem ihr die Kontrolle der Anwendung und Durchführung der „EU-Gesetze“ durch die Mitgliedstaaten obliegt. Auch Rechtsverstöße durch Unternehmen oder Bürger gegen geltendes EU-Recht werden von ihr geahndet.
Auf der Seite der Legislativen sind das Parlament und der Rat („Ministerrat“) inzwischen gleichberechtigte Gesetzgeber.
Der Rat der Europäischen Union in der Zusammensetzung nationaler Minister ist die Repräsentanz der nationalen Regierungen im politischen System der EU, das Europäische Parlament die Repräsentanz der 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger.
Für das Zusammenspiel von Kommission, Rat und Parlament im europäischen Rechtssetzungsverfahren hat sich der Begriff Gemeinschaftsmethode eingebürgert. Die Europäische Kommission leitet aufgrund ihres Initiativrechtes den EU-Gesetzgebungsprozess durch einen Vorschlag ein. Das Europäische Parlament und der Rat der EU beraten und beschließen alsdann den Vorschlag.
Beiden Legislativorganen, also Rat und Parlament, steht das Recht zu, Änderungsvorschläge einzubringen, für deren Annahme sie die Mehrheit in den eigenen Reihen und die Mehrheit in der anderen Institution benötigen. Ein entscheidendes Element der Gemeinschaftsmethode ist die Gleichberechtigung des Parlamentes als Gesetzgeber neben dem Rat. So kann das Parlament nicht nur Änderungen zu den Gesetzentwürfen der Kommission vorschlagen, sondern auch Änderungen, die der Rat vorgeschlagen hat, selbst ändern oder zurückweisen. Die Abgeordneten haben also die Möglichkeit, bestimmenden Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsakte zu nehmen. Die gleichberechtigte Beteiligung des Parlamentes im Gesetzgebungsverfahren trägt dem Demokratieprinzip Rechnung. Durch die Gemeinschaftsmethode erfährt die Rechtssetzung der Union eine doppelte Legitimation. Einerseits über den von den Mitgliedstaaten besetzten Rat, dessen Mitglieder von den nationalen Parlamenten kontrolliert werden (sollen), und andererseits durch das von den Bürgern unmittelbar gewählte Parlament. So ist Europa nicht nur eine Gemeinschaft von Staaten, sondern zugleich eine Union der Bürger.
Verordnungen und Richtlinien sind die maßgeblichen Formate der EU-Gesetzgebung.
Mit der Verordnung schafft der EU-Gesetzgeber einheitliches, d.h. für alle Bürger gleichermaßen geltendes Recht. Sie gelten in der gesamten Union ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen einheitlich und unmittelbar. Sie bedürfen zu ihrer Wirksamkeit keiner Umsetzung ins nationale Recht. Im Gegenteil, den Mitgliedstaaten ist es untersagt, die in diesen Verordnungen verbürgten Rechte und Pflichten aufzuheben, auszusetzen oder inhaltlich abzuändern.
Anderes gilt für Richtlinien. Sie sind ein Instrument der Rechtsangleichung, mit der Widersprüche zwischen den nationalen Rechtsvorschriften beseitigt oder Unterschiede abgebaut werden. Im Gegensatz zur Verordnung sind nicht die Bürger Adressat, sondern die Mitgliedstaaten. Inhaltlich definiert die Richtlinie gegenüber den nationalen Gesetzgebern das zu erreichende Ziel, während es dann Sache der nationalen Gesetzgeber ist, die Einzelheiten im Rahmen der nationalen Rechtsordnungen innerhalb einer bestimmten Frist festzulegen und umzusetzen. Am Ende steht dann ein nationales Gesetz, in dem sich ein „Unionsgesetz“ widerspiegelt. Dieses Verfahren führt zu einer Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen innerhalb der EU.
In den Richtlinien als Rechtsakte der Union kommt ein wesentlicher Gedanke der europäischen Konstruktion zum Ausdruck: Das Streben nach der notwendigen Einheit mit der Wahrung der Vielfalt nationaler Eigenart zu verbinden. Beiden – Verordnung und Richtlinie – gemeinsam ist: Sie schaffen einheitliches Recht und bilden in ihrer Gesamtheit zusammen mit der „Verfassung“ der EU, also dem Konglomerat aus EU-Vertrag, dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU und der Charta der Grundrechte der EU, die Rechtsordnung der Europäischen Union. Dank dieser Rechtsordnung, die für die Mitgliedstaaten und die Bürger gleichsam gilt, ist mit der EU eine Gemeinschaft von 500 Millionen gleichberechtigten UnionsbürgerInnen entstanden. Was das für jeden Einzelnen von uns bedeutet, dazu mehr im nächsten Beitrag.