Europa ist eine Idee

1849 hat Victor Hugo den Europäern prophezeit, sich eines Tages zu einer höheren Einheit zu vereinigen“, eine „europäische Brüderlichkeit zu errichten“ und „Kugeln und Bomben durch die Wahl eines großen souveränen Senats zu ersetzen, der in Europa das sein wird, was in England das Parlament, in Deutschland der Reichstag, in Frankreich die gesetzgebende Körperschaft ist.“

Auch wenn die Europäer in den folgenden 100 Jahren noch viele Kugeln und Bomben erleiden mussten, am Ende hat Victor Hugo Recht behalten:  Die „höhere Einheit“ ist die Europäische Union, der „große souveräne Senat“ das Europäische Parlament. Als dieses im Juni 1979 zum ersten Mal von den Bürgerinnen und Bürgern der damals noch 9 Mitgliedstaaten direkt gewählt werden konnte, sagte eine Rentnerin im französischen Fernsehen: „Wenn wir gemeinsam ein Parlament wählen, bedeutet dies, dass der Krieg endgültig vorbei ist.“

Was aber hat Victor Hugo, wie auch viele vor und nach ihm, glauben lassen, dass sich die Europäer eines Tages tatsächlich zu so etwas wie einer „höheren Einheit“ zusammenfinden?

Für Jean-Jacques Rousseau, einem der geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution, stand fest: „Die europäischen Völker bilden stillschweigend eine Gesamtnation“. Wenn wir jedoch eine „Nation“ begreifen als eine Gemeinschaft von Menschen mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen kulturellen Traditionen und Abstammung, dann erscheint die These von Rousseau auf den ersten Blick eher abwegig. Mit einer gemeinsamen Sprache können die Europäer bekanntlich nicht aufwarten. Wohl aber, und damit ist die These von Rousseau doch nicht so abwegig, können sie es mit einem gemeinsamen geistig-kulturellen Fundus. Wenn es auch nicht für den gesamten europäischen Raum gilt, so stellt Europa in einem wesentlichen (westlichen) Teil eine geistig-kulturelle Einheit dar. So bilden die Europäer eine Kulturgemeinschaft.  Das unterscheidet Europa von anderen Kontinenten. Diese geistig-kulturelle Einheit steht nicht im Widerspruch zu der so oft betonten kulturellen Vielfalt Europas. Mit dieser verhält es sich vielmehr wie mit einem Baum. So vielschichtig und verzweigt sich das Geäst aus einem Stamm heraus entwickelt haben mag, alles entspringt einer Wurzel. In der Gesamtschau bleibt der Baum eine Einheit. Für das geistig-kulturelle Europa bedeutet das: Aus gemeinsamen Wurzeln ist ein Stamm gemeinsamer Werte und ein Geäst vielfältiger kultureller Traditionen erwachsen. In der Gesamtschau bleibt ist dennoch eine Einheit. In Europa nennt man das die „Einheit in der Vielfalt“. Und diese Einheit findet ihre Wurzeln bereits in der griechisch-römischen Antike. Europa ist von einer 2000-jährigen christlichen Tradition geprägt, von antiker und mittelalterlicher Philosophie, vom Humanismus der Renaissance und von den großen Denkern der Aufklärung wie Kant oder Voltaire.

Der französische Philosoph  Bernard-Henri Lévy nennt Europa eine „Kategorie des Geistes“. Ausdruck dieses Geistes sind zivilisatorische Errungenschaften wie die Menschenrechte, der Individualismus, der Liberalismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, um nur einige zu nennen.

Dies sind europäische Ideen, nicht asiatische, nicht afrikanische, nicht nahöstliche.

Diese bilden den europäischen Wertekanon und damit das geistig-kulturelle Fundament der europäischen Nationen.  Das ist es, was die Europäer von Kreta bis Island, von Lissabon bis Prag verbindet.

Dieser Wertekanon ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist vielmehr das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Zivilisationsprozesses,  der nicht frei von Rückschlägen war. Auch ist er immer wieder verraten worden. Und wir sind nicht davor gefeit, einen erneuten Verrat zu begehen, bzw. einen solchen Verrat zuzulassen. Über die  „illiberale Demokratie“ in Ungarn wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein.

Es ist das Bewusstsein um das gemeinsame geistig-kulturelle, das nicht nur Victor Hugo an die mögliche Vereinigung der Völker Europas in Frieden und Freiheit hat glauben lassen. Es ist die Überzeugung, dass, um ein Wort Willy Brandts aufzugreifen, hier zusammenwachsen (vereinigt) werden kann, was zusammen gehört.

Mehr noch: Aus diesem geistig-kulturellen Fundament heraus hat sich ein die Europäer verbindendes  Lebens- und Gesellschaftsmodell entwickelt, das von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und das freie Individuum in den Mittelpunkt stellt. Hier spiegelt sich der Geist der Aufklärung wider, dem wir unser heutiges Verständnis von Freiheit verdanken. Demzufolge bedeutet Freiheit: in individueller Selbstbestimmung, ausgestattet mit unverzichtbaren und unmittelbaren Rechten, frei von äußeren Zwängen und Unterdrückung, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – verbunden mit der Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Wenn also von der „Idee Europa“ die Rede ist,  so geht es schlichtweg darum, dieses gemeinsame Lebens-und Gesellschaftsmodell  mit einem politischen System zu verbinden, das  die „höhere Einheit“ im Sinne von Victor Hugo schafft und den Europäern ein Zusammenleben in Frieden und Freiheit garantiert. Dabei muss dieses System, oder besser diese politische Ordnung, auf den Prinzipien „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ (übersetzt mit „Solidarität“) gründen.

Eine Einheit ist ohne Gleichheit aller Beteiligten nicht denkbar. Einheit bedingt Gleichheit!

Gleiches gilt für die Freiheit. Auch sie bedingt die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Mitglieder einer Gemeinschaft.

Substanz gewinnt diese Einheit erst dann, wenn diese Gemeinschaft von einem solidarischen Miteinander getragen ist. Gemeinschaft funktioniert nur im solidarischen Miteinander.

„Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“, das war der Schlachtruf der Französischen Revolution. Freiheit-Gleichheit- Solidarität (Brüderlichkeit), das sind die Prinzipien, auf denen eine politische Ordnung basieren muss, die die europäischen Völker zu einer Einheit verbindet.

Einheit und Gleichheit schafft das Recht, eine gemeinsame Rechtsordnung. Außerdem ist die Gleichheit vor dem Gesetz die einzige Art von Gleichheit, die die Freiheit fördert und garantiert. Und mehr noch: Die Gleichheit im Recht schafft Frieden, denn Recht bedeutet den Verzicht auf Rache (Theodor Adorno). Das alles ist keine neue Erkenntnis. Schon der 1789 geborene deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List wusste: „Das höchste Ziel rationaler Politik ist die Vereinigung der Nationen unter dem Rechtsgesetz.“

Fazit: Die Einheit Europas, die Vereinigung der Völker mit der geistigen und kulturellen Kraft des Rechts zu verbinden, das ist der eigentliche Wesenskern der „Idee Europa“.

Als anti-europäisch und deshalb auch als untauglich haben sich diverse Versuche erwiesen, Europa durch Gewalt und Unterdrückung zu „vereinigen“.

Eine Vereinigung der europäischen Völker in Frieden und Freiheit ist nur im Rahmen einer alle Bürger gleichsam berechtigenden und verpflichtenden Rechtsordnung denkbar.

Das Ganze auf eine einfache Formel gebracht: Europa als Idee, das ist die Idee eines gesellschaftlichen und politischen Ordnungsmodells, das die europäischen Nationen auf dem Fundament gemeinsamer Werte unter dem Dach einer gemeinsamen Rechtsordnung, deren Bezugsrahmen die Menschenrechte sind, vereinigt.

So wird Europa zu einem gemeinsamen Haus der Freiheit und zu einer Union der Bürger.

Und das führt uns direkt zur Europäischen Union. Sie ist die Antwort auf die Jahrhunderte alte Geschichte von Krieg und Frieden, indem mit ihr die geistig-kulturelle Einheit Europas erstmals in eine definitive politische Ordnung überführt worden ist. Eine politische Ordnung, in der sich die „Idee Europa“ widerspiegelt.