Europa ist das Opfer von Halbherzigkeit
Die EU ist ein föderativ strukturiertes Gemeinwesen. Soweit so gut. Entscheidend für den Erfolg eines föderalen Systems sind jedoch das Austarieren der Machtverhältnisse und das Schaffen von Gleichgewichten zwischen dem von den Gliedern in Eigenverantwortung wahrgenommenen und dem gemeinsam verantwortetem und gestaltetem. Hieran mangelt es in der EU. Das, was die EU als politisches Gemeinwesen stark macht, ist die Rechtsgemeinschaft, d.h. die gemeinsame Rechtsordnung. Demgegenüber fehlt es jedoch an einer transparenten und kohärenten Zuordnung von politischen Zuständigkeiten innerhalb des „multi-level-governance-systems“. Die Folge ist eine Ambivalenz aus rechtlicher Einheit und politischer Vielfalt. Diese Ambivalenz, oder nennen wir es besser diese „Gemengelage“, ist der politischen Halbherzigkeit und dem nationalen Egoismus der Staats-und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, also der Mitglieder des Europäischen Rates geschuldet. Verfassungsmäßige Aufgabe des Europäischen Rates im politischen System der EU ist es, „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür festzulegen.“ Man übertreibt sicherlich nicht, wenn man behauptet, dass diesem Verfassungsauftrag in den letzten Jahren nicht wirklich genügt worden ist.
Es ist immer wieder die Rede von den „Staats-und Regierungschefs der EU“. Mit Verlaub: „Staats-und Regierungschefs der EU“ gibt es genauso wenig wie die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer die „Regierungschefs Deutschlands“ sind. Die Damen und Herren sind Staats-oder Regierungschef ihres Landes, die anderen Regierungschef des jeweiligen Bundeslandes. Auch, dass die Sitzungen des Europäischen Rates nach wie vor als „Gipfeltreffen“ apostrophiert werden, dient nicht unbedingt dem besseren Verständnis des politischen Systems der EU. Mit dem Terminus „Gipfel / Gipfeltreffen“ assoziiert man gewöhnlich diplomatische Großereignisse. Sitzungen des Europäischen Rates sind jedoch europäischer Alltag, nicht mehr aber auch nicht weniger.
Und dieser europäische Alltag ist eben geprägt von einer Gemengelage aus rechtlicher Einheit und politischer Vielfalt.
Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Wirtschaftspolitik. Es mutet wie eine Binsenweisheit an, was Walter Hallstein, der 1. Präsident der Kommission, schon 1962 festgestellt hat: Wenn die Wirtschaft durch die Niederlegung der Handelsgrenzen zwischen den Mitgliedstaaten in den größeren europäischen Wirtschaftsraum integriert wird, so muss auch die staatliche Wirtschaftspolitik der sechs Mitgliedstaaten in diesen größeren Raum integriert werden.
Kurzum: Wo ein Binnenmarkt existiert, können keine verschiedenen Wirtschaftspolitiken zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftsprozesses betrieben werden.
Bereits mit Gründung der EWG stand also das Thema „Wirtschaftsunion“ auf der politischen Agenda. Es sind zwei Komponenten, die eine Wirtschaftsunion ausmachen: zum einen die gemeinsame Rechtsordnung als Fundament einer gemeinsamen wirtschaftlichen Ordnung und zum anderen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.
Deshalb, so hat Walter Hallstein seinerzeit gefordert, bedarf es umfangreicher gemeinschaftlicher Überbauten, die wesentliche Stücke der Steuerpolitik, der Budgetpolitik, der Konjunkturpolitik und Währungspolitik umfassen.
Zu den Kernelementen des Gemeinwesens Europäische Union zählt der weitestgehend verwirklichte Binnenmarkt. Hierin haben sich die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten zu einem gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzen zusammengeschlossen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Der europäische Binnenmarkt bedeutet per Saldo eine rechtliche Verschmelzung der nationalen Märkte zu einer Einheit. Die erste Komponente der Wirtschaftsunion ist erfüllt, bzw. erfüllt sich durch die sich immer stärker verdichtende europäische Rechtsordnung. In puncto Wirtschaftspolitik bietet die Europäische Union jedoch ein eher diffuses Bild.
Wettbewerbspolitik und Außenhandelspolitik, zwei Teilbereiche der Wirtschaftspolitik, die in einem inneren Zusammenhang mit dem Binnenmarkt stehen, sind vergemeinschaftet. Soll heißen: die Zuständigkeit hierfür ist den Unionsorganen übertragen. Welche Folgen das haben kann, hat google erfahren müssen. Die EU- Kommission hat das amerikanische Unternehmen „wegen Missbrauchs deiner marktbeherrschenden Stellung als Suchmaschinenbetreiber“ in der Europäischen Union mit einer Geldbuße von 2,42 Mrd. Euro belegt.
Währungspolitisch bildet die Europäische Union auf dem Gebiet von 19 ihrer Mitgliedsländer und für 337.000.000 UnionsbürgerInnen eine Einheit (Währungsunion). Für sie ist der Euro die gemeinsame Währung. Die Währungspolitik liegt hier in der Verantwortung der Unionsorgane, namentlich der Europäischen Zentralbank.
Die „Mitgliedschaft“ in der Eurozone ist nicht in das Belieben der nationalen Regierung gestellt. Sie ist vielmehr (mit Ausnahme für Dänemark, Schweden und das Vereinigte Königreich) obligatorisch, sobald die sog. Konvergenzkriterien erfüllt sind. Dann ist die Euro- Einführung unwiderruflich.
Eingebettet ist der Euro in den „Stabilitäts- und Wachstumspakt“, mit dem sich die Unionsmitglieder wechselseitig zu einer besonderen Haushaltsdisziplin verpflichtet und der Europäischen Kommission die Kontrolle hierüber übertragen haben. Es ist Aufgabe der Kommission die Entwicklung der Haushaltslage und insbesondere die öffentliche Verschuldung im Lichte der gemeinsam festgelegten und für alle Unionsmitglieder verbindlichen Parameter zu überwachen und ggfls. bei Verstößen ein näher definiertes Verfahren auf den Weg zu bringen.
Im Übrigen liegt die Verantwortung, d.h. Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Zwar haben sie sich ordnungspolitisch für die Union auf das Modell einer einem ausgewogenen Wirtschaftswachstum, dem sozialen Fortschritt und den Zielen Preisstabilität und Vollbeschäftigung verpflichteten „ wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ verständigt, doch jeder geht dabei für sich eigene Wege. Als Mitglieder der Union sind sie (lediglich) verpflichtet, die „Wirtschaftspolitik als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse zu betrachten“ und sie im Europäischen Rat zu koordinieren, um die Vertragsziele zu erreichen. Hierzu werden vom Rat der EU, also dem Gremium der nationalen Minister regelmäßig sog. „integrierte Leitlinien“ zur Wirtschaftspolitik und für beschäftigungspolitische Maßnahmen in den Ländern verabschiedet. Deren Einhaltung zu überwachen, obliegt wiederum der Kommission. Stellt die Kommission fest, dass die Wirtschaftspolitik eines Landes nicht mit den gemeinsamen Grundzügen vereinbar ist, kann sie Vorschläge zur Korrektur des nationalen wirtschaftspolitischen Kurses unterbreiten, über die dann im Rat die nationalen Minister beschließen. Ob diese alsdann der betreffende Mitgliedstaat, der übrigens bei der Beschlussfassung ausgeschlossen ist, beherzigt, bleibt letztendlich ihm überlassen. Mit Sanktionen kann ihre Nichtbefolgung jedenfalls nicht geahndet werden. Im Ergebnis bedeutet also die Verpflichtung zur „Koordinierung“ nichts anderes als „ein bisschen schwanger“.
Ähnlich sieht es in der Sozialpolitik aus. Zwar findet sich schon im EWG-Vertrag aus dem Jahre 1957 auf Drängen der Franzosen ein Kapitel über Sozialpolitik, doch wusste es seinerzeit die deutsche Regierung zu verhindern, hierfür besondere Zuständigkeiten den europäischen Organen einzuräumen. Eine unausgesprochene Arbeitsteilung sah vor, dass die Organe der EU für die wirtschaftliche Integration, d.h. insbesondere die Schaffung des Binnenmarktes zuständig waren und die Mitgliedstaaten, d.h. ihre entsprechenden Organe für dessen soziale Flankierung.
An diesem Prinzip hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, auch wenn die Sozialpolitik inzwischen auch auf der europäischen Agenda an Bedeutung gewonnen hat. Die inhaltliche Gestaltung der Sozialpolitik bleibt aber den Mitgliedstaaten vorbehalten Sie definieren die Grundprinzipien für die sozialen Sicherungssysteme, mithin deren Umfang und deren Finanzierung. Allein nur über einen gemeinsamen Standard der sozialen Absicherung für alle Unionsbürger nachzudenken, kommt vielen Akteuren in den nationalen Regierungsstellen einem Sakrileg gleich. Das Ergebnis ist ein Wettbewerb der Mitgliedstaaten um Betriebsansiedlungen verbunden mit einem systematischen Sozialabbau in den Ländern zu Lasten der Menschen. Dabei ist doch, um ein Wort Helmut Schmidts aufzugreifen, das europäische Sozialstaatsmodell „die letzte große kulturelle Errungenschaft der Europäer und ein unverzichtbarer Bestandteil der gemeinsamen politischen Kultur.“ Europa kann nicht zu dem Preis eines sozialen Rückschrittes geschaffen werden.
Das, was die EU als Gemeinwesen stark und einmalig in der Welt macht, ist die Rechtsgemeinschaft, die alle Bürger gleichermaßen betreffende Rechtsordnung. Die Einheit Europas mit der Macht des Rechts zu verbinden, ist die herausragende Errungenschaft der Europäer.
Das, was dieses Gemeinwesen EU schwächt und letztendlich viele Menschen an der Sinnhaftigkeit des Einigungswerkes zweifeln lässt, ist die mangelnde politische Kohärenz resultierend aus dem Fehlen klarer politischer Zuständigkeits- und Entscheidungsstrukturen. Die Gemengelage, wie sie sich im Augenblick darstellt und wie sie den europäischen Alltag prägt, ist nicht geeignet, den Menschen ein Gefühl der Zu- und Zusammengehörigkeit in dem politischen Gemeinwesen EU zu vermitteln. Am Ende bedeutet es die Desintegration.
Eine ähnliche Gemengelage finden wir in der Außen- und Sicherheitspolitik. „Im Vergleich zur Außen-und Sicherheitspolitik der EU ist ein Hühnerhof eine geschlossene Kampftruppe“ – mit dieser Feststellung hat Jean-Claude Juncker die Gemengelage zutreffend beschrieben. Die Zuständigkeit für die EU- Außen- und Sicherheitspolitik liegt weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Allein dieser Satz macht das ganze Dilemma deutlich. Im Prinzip kennt das politische Gemeinwesen EU zwei Arten von Außenpolitik, eine gemeinsame und 28 nationale. Jeder Mitgliedstaat betreibt eine eigene Außen-und Sicherheitspolitik, wie auch eine eigene Wirtschafts-und Finanzpolitik. Ist der Handlungsrahmen der nationalen Außenpolitik nicht begrenzt, bestimmt sich der Handlungsrahmen der gemeinsamen Außenpolitik an verfassungsmäßig definierten Zielen. Diese sind inspiriert von den Gründungsideen der Europäischen Union selbst.
Die Leitlinien der EU-Außenpolitik bestimmt der Europäische Rat. Die Umsetzung obliegt dem Rat für auswärtige Angelegenheiten, also dem Gremium der nationalen Außenminister. In beiden Organen der EU gilt hierbei das Einstimmigkeitsprinzip. EU- Außenpolitik ist also das Ergebnis zwischenstaatlicher Kooperationen (intergouvernementale Methode) der nationalen Regierungen. Was sich auch darin ausdrückt, dass das Europäische Parlament in die Beratungen, bzw. Beschlussfassung nicht eingebunden ist und auch keine Kontrollrechte besitzt.
Die Ausführung der gemeinsamen Außenpolitik liegt in der Zuständigkeit des Hohen Vertreters für Außen-und Sicherheitspolitik (Außenbeauftragte(r) der EU), ein Amt, das derzeit von Frederica Mogherini ausgeübt wird.
Für die Außenvertretung der EU zuständig ist zudem der Präsident des Europäischen Rates (derzeit Donald Tusk). Weder die deutsche Kanzlerin, noch der französische Staatspräsident besitzen also die Legitimation, die EU zu vertreten oder in deren Namen zu sprechen. Sie sprechen im Namen Deutschlands oder Frankreichs. Dass man es mit dieser Trennung offenkundig nicht immer so genau nimmt, steht auf einem anderen Blatt.
Vor dem Hintergrund des gerade geschilderten gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass die GASP von der einen oder anderen Regierung zuweilen auch als Instrument zur Durchsetzung spezifischer nationaler Interessen missbraucht wird. Und genauso erklärt sich hieraus, warum sich die EU politisch im Konzert der Weltmächte weiterhin mit der Rolle einer verhinderten Weltmacht begnügen muss.
Aus all dem folgt:
Wenn die Europäer es ernst meinen mit dem wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union, zu dem sie sich gemeinsam verpflichtet haben, dann bleibt es ihnen nicht erspart, die Voraussetzungen für eine gemeinsame Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu schaffen. Dafür müssen den gemeinsamen Unionsorganen die entsprechenden Zuständigkeiten eingeräumt werden, wobei insbesondere dem Europäischen Parlament als Repräsentantin der UnionsbürgerInnen eine besondere Bedeutung zukommt. Nur so wird aus der rechtlichen Einheit auch eine politische.
Wollen die Europäer außenpolitisch im globalen Spiel der Mächte wirklich ein entscheidendes Wort mitreden, so braucht es eine Außenpolitik, die sich nicht in nationalen Befindlichkeiten verstrickt. Dazu ist im politischen System der EU als einem föderativ strukturierten Gemeinwesen die alleinige Zuständigkeit für Außen-und Sicherheitspolitik auf der Unionsebene und die Verantwortung hierfür gemeinsamen Institutionen zu übertragen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre ein Verzicht Frankreichs und Großbritanniens (sofern der Brexit ausfällt) auf den Sitz als ständiges Mitglied im UNO- Sicherheitsrat zugunsten der EU.