Der Un- Geist ist aus der Flasche

Im Januar 1963 schreibt der ehemalige französische Außenminister und „Vater Europas“, Robert Schuman in seinem Buch „Pour l´Europe“: „Unsere europäischen Grenzen sollten den Austausch von Gedanken, Personen und Gütern immer weniger beschränken. Über den veralteten Nationalismen soll in Zukunft das Gefühl der Solidarität der Nationen stehen…“

40 Jahre später gründen 25 europäische Staaten als Nachfolgerin der Europäischen Gemeinschaften die Europäische Union, um „in dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern zu stärken, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas weiterzuführen,  wie es in der Präambel der „Verfassung“ der EU, dem Vertrag von Lissabon, heißt. Einen Prozess also, der mit der historischen Erklärung Robert Schumans am 9. Mai 1950 seinen Anfang genommen hat.

Einen Prozess, der inzwischen über 500 Millionen Europäer als „Unionsbürger“ unter dem Dach einer gemeinsamen Rechts- und Werteordnung gleichberechtigt vereinigt hat.

Einen Prozess, zu dessen wesentlichen Errungenschaften  es zählt, die Grenzen zwischen den europäischen Staaten und Nationen nahezu einzuebnen, Personenkontrollen – zumindest, was die „Schengen- Länder“ anbelangt, an diesen Grenzen abzuschaffen und die einstigen Kontrollhäuschen zu Zeugnissen längst vergangener Zeit haben werden lassen.

Die Gründung einer Europäischen Union, die Abschaffung von Grenzen und deren Kontrolle sind Ausdruck von wechselseitigem Vertrauen und dem gemeinsamen Willen, die annachronistische Zerstückelung des europäischen Kontinents endgültig auf den Scheiterhaufen der europäischen Geschichte zu verdammen.

Im Herbst 2015, nur 65 Jahre nach der Zeitenwende in Europa erlebt dieses großartige und in der Welt einzigartige politische Ordnungsmodell Europäische Union seinen eigenen Herbst.

Innerhalb der EU werden Zäune errichtet, selbst in dem Land, das 4 Jahrzehnte unter einer Mauer aus Beton und Stacheldraht gelitten hat, wird die Forderung nach einem Grenzzaun zum Nachbarn Österreich laut.

„Verkauft“ werden uns diese Grenzbefestigungen als Antwort auf die Flüchtlingswelle. In der Tat, die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und wo auch immer sie herkommen, stellen die Europäer vor bisher nicht gekannte Herausforderungen. Aber Grenzzäune unterscheiden nicht zwischen Menschen aus Syrien und Unionsbürgern!

Grenzzäune innerhalb der  EU sind Ausdruck von Mistrauen, von fehlender Solidarität, sie erschüttern das europäische Einigungswerk in seinen Grundfesten, sie sind Ausdruck europäischen Ungeistes, den wir längst überwunden geglaubt haben.

Der aus der CDU immer lauter werdende Vorstoß, Grenzzäune zu errichten, wie es andere bereits getan haben, mag für Angela Merkel  der Beginn ihrer Götterdämmerung als Kanzlerin sein, für uns Europäer bedeutet ein solches Vorhaben den Einstieg in den Ausstieg aus dem Projekt Europa! Einem Projekt, das uns in den vergangenen 65 Jahren Frieden und (persönliche) Freiheit beschert hat.

Wer heute wider den europäischen Geist Grenzzäunen das Wort redet, der mag vor allem auch erklären, wie und unter welchen Bedingungen er sich deren Beseitigung demnächst vorstellt. Hierzu ist man uns bisher eine Antwort schuldig geblieben.

Probleme des 21. Jahrhunderts lassen sich nicht mit Instrumenten des Mittelalters lösen. Dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer wird der Ausspruch nachgesagt: „Kastriere die Dummheit und die Menschheit stirbt aus.“ Demzufolge legt die aktuelle Diskussion den Schluss nahe, die Gattung Mensch ist nie und nimmer vom Aussterben bedroht.