Das Erbe der Melina Mercouri: „Kulturhauptstadt Europas“

Was verbindet die niederländische Stadt Leeuwarden mit Valletta, der Hauptstadt Maltas, was verbindet die italienische Stadt Matera mit dem bulgarischen Plowdiw und was verbindet Galway in Irland mit der kroatischen Stadt Rijeka?

Die Antwort: Die erstgenannten waren es 2018, die zweitgenannten sind es 2019 und die letztgenannten werden es 2020 sein- Kulturhauptstadt Europas!

Den Reigen der „Kulturstädte Europas“ (Kulturhauptstädte gibt es erst seit 1999) hat 1985 die griechische Hauptstadt Athen eröffnet. Nun mag man mutmaßen, dies sei dem Umstand geschuldet, dass die „Wiege“ der europäischen Kultur in der griechisch-römischen Antike stand. So naheliegend dies auch wäre, allein hier liegen die Dinge ein wenig anders.

Das Privileg, erste „Kulturstadt Europas“ gewesen zu sein, verdankte Athen der „Erfinderin“ des Projektes „Kulturstadt Europas“, der  griechischen Sängerin, Schauspielerin und Politikerin  Melina Mercouri.

Die 1920 in Athen geborene Melina Mercouri (gest.1994) feierte in den 1960er Jahren als Schauspielerin mit Filmen wie „Sonntags-nie“, oder „Phaedra“ und „Heißes Pflaster Chicago“ internationale Erfolge. Während der Militärdiktatur in Griechenland zwischen 1967 und 1974 lebte sie im Exil in Paris. Als das Militärregime ihr die griechische Staatsbürgerschaft aberkannte, erklärte sie in der französischen Presse an die Adresse des griechischen Innenminister Pattalos gerichtet: „Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben. Herr Pattalos ist als Faschist geboren. Er wird als Faschist sterben!“. Dieses Bekenntnis wird später zum Titel ihrer Autobiographie: „Ich bin als Griechin geboren“.

Nach dem Sturz der Militärdiktatur und der Rückkehr Griechenlands zur Demokratie kehrt Melina Mercouri am 24. Juli 1974 in ihre griechische Heimat zurück. Sie geht in die Politik. Der damalige griechische Ministerpräsident Andreas Papandreou beruft sie als Kulturministerin in sein Kabinett. . Ein Amt, das sie  von 1981 bis 1989 sowie von 1993 bis zu ihrem Tod 1994 bekleidet.

Und in eben  dieser Funktion wird sie zur Initiatorin des Projektes „Kulturstadt Europas“.

Wir schreiben das Jahr 1984. Frankreich hat in der ersten Hälfte des Jahres die Präsidentschaft im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft (Vorläuferin der EU) inne. Am 24. Juni 1984 gibt es unter dem Vorsitz des französischen Kulturministers Jack Lang  erstmals eine (informelle) Ministerratssitzung der für kulturelle Angelegenheiten zuständigen Fachminister aus den damals 10 Mitgliedstaaten. „Informell“ ist das Treffen, weil es zu diesem Zeitpunkt  noch keine Zuständigkeiten in Sachen „Kultur“ auf Gemeinschaftsebene gibt. Dies hat  sich mit dem „Vertrag von Maastricht“ im Jahr 1992 geändert.

Die Sitzung an diesem 24. Juni neigt sich dem Ende entgegen. Man ist bereits beim Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ angelangt. Als letzte meldet sich Melina Mercouri zu Wort. Was jetzt folgt, hat sie bereits im Januar mit ihrem Kollegen Jack Lang in einer Lounge des Athener Flughafens verabredet. Ihren überraschten Kollegen, die bereits zum Aufbruch drängen, präsentiert sie ihre Idee einer „Kulturstadt Europas“ und setzt gleich noch einen oben drauf, indem sie Athen als „Kulturstadt Europas“ für das Jahr 1985 vorschlägt. Manch einem in der Runde mag es in diesem Moment die Sprache verschlagen haben ob dieses „Überfalls“. Nichts desto weniger Trotz nicken ihre Ministerkollegen die Idee einer „Kulturstadt Europas“ und  den Vorschlag  Athen für 1985  kommentarlos ab.

Ein Jahr später, am 13. Juni 1985 -Athen ist bereits „Kulturstadt Europas“ – beschließen die Kulturminister der 10 Mitgliedstaaten  einstimmig die Rechtsgrundlage für dieses Projekt – „Die Entschließung der im Rat vereinigten für Kulturfragen zuständigen Minister für die alljährliche Benennung einer Kulturstadt Europas“.

Ziel und Zweck des Projektes ist, so kann man dort lesen, einer Kultur Ausdruck zu verleihen, die sich in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer zeitgenössischen Entwicklung sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch einen aus der Vielfalt hervorgegangenen Reichtum auszeichnet….                                                                                       Durch diese Veranstaltung sollen der europäischen Öffentlichkeit besondere kulturelle Aspekte der Stadt, der Region oder des betreffenden Landes zugänglich gemacht werden….

In jedem Jahr sollte  von nun ab in alphabetischer Reihenfolge  Mitgliedstaaten  eine „Kulturstadt Europas“ ausgewählt werden. Für die Wahl war ein einstimmiger Beschluss notwendig.

Mit der  alphabetischen Reihenfolge hat man offenkundig nicht so genau genommen, andernfalls  wäre der griechischen Hauptstadt Athen nicht das Privileg zu Teil geworden, erste „Kulturstadt Europas“ zu sein. Was jedoch nie zur Disposition stand, war das Einstimmigkeitserfordernis. Und  eben das sorgt bei der Wahl der „Kulturstadt Europas“ für das Jahr 2000 zu einem äußerst skurrilen Ergebnis. Für dieses Jahr lagen gleich Bewerbungen aus sechs Mitgliedstaaten vor. Ein einstimmiger Beschluss der im Rat versammelten  15 nationalen Kulturminister (inzwischen waren mit Portugal, Spanien (1986), Österreich, Schweden und Finnland (1995) fünf weitere Mitgliedstaaten hinzugekommen) wurde unmöglich. Der Einfachheit halber machte man kurzentschlossen alle Kandidaten zur „Kulturhauptstadt Europas“. So konnten sich im Jahr 2000 die französische Stadt Avignon, die italienische Stadt Bologna, Belgiens Hauptstadt Brüssel, die spanische Stadt Santiago de Compostella, die finnische Hauptstadt Helsinki und das isländische Reykjavik mit dem Titel „Kulturhauptstadt Europas“ schmücken. Zusätzlich wurden  mit der norwegischen Stadt Bergen, mit der polnischen Stadt Krakow und mit der tschechischen Hauptstadt Prag noch drei nicht zur Gemeinschaft gehörende Städte zur „Kulturhauptstadt Europas“ gekürt.  Wäre man bereit gewesen, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben und stattdessen eine in eine demokratischen Gepflogenheiten entsprechende  Abstimmung mit einfacher Mehrheit im Rat zuzulassen, man hätte sich diese Absurdität ersparen können.

So aber besann man sich  für die Zukunft einer anderen  hinreichend bekannten, jedoch selten zu  einfachen Lösungen führenden Formel:  Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.  Die Gründung eines Arbeitskreises  bedeutete  hier die Einrichtung einer „Jury“.

Aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung aus dem Jahre 1999 ist nunmehr die EU- Kommission „Herrin der Verfahrens“. Sie beruft  jeweils für drei Jahre eine Jury  zur Prüfung der Bewerbungen.  Mitglieder der Jury sind sieben  europäische Kulturexperten Experten. Dabei werden je zwei Mitglieder vom Europäischen Parlament, vom Rat und der Kommission benannt. Für das siebte Jurymitglied hat der  Ausschuss  der Regionen (AdR) das Vorschlagsrecht. Hinzu kommen 6 nationale Experten aus den Mitgliedstaaten, deren Städte zur Wahl anstehen.  In ihrer Komplettbesetzung von dreizehn Mitgliedern trifft die Jury ihre Entscheidung.

Für die frühere luxemburgische Kulturministerin und Europaabgeordnete Erna Hennicot-Schoepges,  selbst zwischen 2009 und 2012 Mitglied dieser Jury, steht fest: Wenn sich gleichzeitig 15 spanische Städte um den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ bewerben, wie ich es während meiner Mitgliedschaft in der Jury erlebt habe, dann stößt auch dieses Modell an seine Grenzen. In einem solchen Fall wäre eine nationale Vorauswahl sinnvoll. Zumal sich dann nicht wieder der Frust der unterlegenen Bewerber an Brüssel entlädt.“

Auf der Grundlage  eines abschließenden Berichts der Jury, einer möglichen Stellungnahme des Europäischen Parlamentes hierzu spricht die EU-Kommission eine Empfehlung aus. Der Rat kürt zu guter Letzt nach Maßgabe dieser Empfehlung offiziell die jeweilige „Kulturhauptstadt Europas“. Die Durchführung des Programms wird anschließend von den sieben europäischen Experten überwacht.

Die Moral der Geschichte: Europa wird dann zu einem komplizierten Projekt, wenn politische Engstirnigkeit und nationales Prestigedenken demokratischen Mehrheitsentscheidungen im Wege stehen.

Mit der neuen Regelung wurde aber nicht nur das Verfahren, sondern zugleich auch der Titel verändert. Aus der „Kulturstadt Europas“ wurde die „Kulturhauptstadt Europas“. Diese Namensänderung hatte jedoch  so ihre  Tücken. Was man 1999 nicht wissen konnte, mit der sog. Osterweiterung  der EU im Jahre 2004 und 2007 sind 14 neue Mitgliedstaaten hinzugekommen. Um auch diesen zeitnah die Möglichkeit einer „Kulturhauptstadt Europas“ zu eröffnen, beschloss man 2006, die bereits festgelegte  Reihenfolge der „kulturhauptstadtrelevanten“ Mitgliedstaaten um eine Liste der neuen Mitgliedstaaten zu ergänzen. So verfügt die EU seit 2009 Jahr für Jahr über zwei „Kulturhauptstädte“. Ob man damit aus der Not eine Tugend gemacht hat, sei einmal dahingestellt.